Straßennamen mit NS- und Kolonialvergangenheit – Stuttgart arbeitet seine Geschichte auf

Wir beantragen:

  • Die Verwaltung macht dem Gemeinderat einen Vorschlag, wie Verfahren zur Aufarbeitung der NS- und Kolonialvergangenheit von Stuttgarts Straßennamen / Gebäude und Plätze aussehen könnte. Bei einer Kommission wären Vertreter*innen des Stuttgarter Stadtarchiv, des Landesarchivs Baden-Württemberg, des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg und des Lern- und Gedenkorts Hotel Silber zu berücksichtigen.
  • Die Verwaltung legt dar, wie eine begleitende Bürger*innenbeteiligung eines solchen Prozesses aussehen könnte.

Begründung:

„Straßennamen informieren, erinnern und ehren“ – so hieß es in einer Pressemitteilung der Stadt München vom Juni 2016. Diese Meldung stand im Kontext einer Aufarbeitung der Geschichte hinter den Straßennamen in der bayerischen Landeshauptstadt. Insgesamt wurden 6177 Straßennamen geprüft, Dabei fielen rund 400 Straßennamen auf, die einer Klärung bedurften.

Gerade angesichts aktueller neonazistischer, antisemitischer und rassistischer Aktivitäten bis hin zu Morden und anlässlich des heutigen 75. Jahrestags zum Ende des Zweiten Weltkriegs ist es an der Zeit, sich umfassend damit zu beschäftigen, welche Personen in Stuttgart mit der Benennung von Straßen, Wegen, Gebäuden und Einrichtungen geehrt wurden.

Dass dies keine rein politische Entscheidung sein kann, liegt auf der Hand. Dafür braucht es unabhängige Expert*innen – eine Arbeitsgruppe oder Kommission – die Kriterien zur Überprüfung von Namensgebungen erarbeiten und entsprechende Konsequenzen vorschlägt (Umbenennung, Erläuterungsschild). In eine solche Kommission könnten Vertreter*innen des Stadtarchivs, des Landesarchivs, des Hauses der Geschichte und des Lern- und Gedenkorts Hotel Silber benannt werden, sowie regionale und überregionale Expert*innen von Universitäten und Forschungseinrichtungen. Darüber hinaus wäre eine Bürger*innenbeteiligung sinnvoll und angebracht, um die Akzeptanz möglicher Entscheidungen zu steigern.

Die Expert*innen einer möglichen Kommission könnten dabei auf Erfahrungen von anderen Städten aufbauen:

Städte wie Freiburg, München, Bremerhaven oder Hamburg haben in der Vergangenheit bereits solche Kommissionen eingesetzt, welche die NS-Vergangenheit von Persönlichkeiten untersucht haben, nach denen Straßen, Wege, Plätze oder Gebäude benannt wurden. Dabei wurden differenzierte Kriterien angewendet und ergebnisoffen geprüft. Die Kommission in Bremerhaven etwa arbeitete mit vier Kategorien, in die die zu untersuchenden Personen einzuordnen waren:

  1. Ablehnung des NS-Regimes oder keine Nähe zum NS-Regime feststellbar
  2. Ambivalente Haltung zum NS-Regime
  3. Aktive Unterstützung des NS-Regimes
  4. Persönliche Beteiligung an Verbrechen

Die Freiburger Kommission einigte sich auf folgende Kriterien:

Aktive Förderung des Nationalsozialismus bzw. des NS-Unrechtstaates von führender Position aus

Aggressiver Antisemitismus bei solchen Personen, die Multiplikatoren darstellten und über entsprechenden Einfluss verfügten

Extremer Rassismus in Theorie und/oder Praxis

Militarismus in Form der Glorifizierung des Ersten Weltkrieges (Dolchstoßlegende)

Extreme, unzeitgemäße Frauenfeindlichkeit

Ergänzend könnte in Stuttgart auch noch eine Kategorie Kolonialismus eingefügt werden, soweit es in Stuttgart Hinweise auf Persönlichkeiten gibt, die eine unrühmliche Rolle in dieser Zeit spielten. Nachdem im Gemeinderat unserem Antrag „Koloniale Geschichte der Stadt Stuttgart aufarbeiten“ Nr. 718/2019 mehrheitlich zugestimmt wurde, könnten die Ergebnisse dieser Arbeit in die Aufarbeitung der Hintergründe der Straßennamen einfließen. Zudem könnten auch Kategorien wie Verwicklung in Waffengeschäfte und antidemokratische Haltungen eine Rolle spielen.

Als Konsequenz der Untersuchung schlagen beispielsweise die Freiburger Mitglieder der Kommission vor, in schwerwiegenden Fällen, die entsprechende Straße, den Weg, den Platz oder das Gebäude umzubenennen und unterbreiten einen Vorschlag, nach wem der Ort benannt werden könnte. In den weiteren Kategorien kommen diskussionswürde, teilweise belastete Persönlichkeiten vor. Hier wäre eine Möglichkeit, an dem Straßenschild eine Tafel aufzuhängen, welche die Verstrickungen in das NS-Regime aufzeigt, wie das etwa die Stadt Fürstenfeldbruck im Falle Wernher von Brauns getan hat.

 

Freiburger Kategorien:

A= schwer belastet, nicht haltbar,

B= diskussionswürdig, teilweise belastet, Abwägen,

C= unbelastet,  unterschieden in

C1 Namen, die heutzutage nicht mehr vergeben würden

C2 auch für heutige Vorstellungen akzeptable Bezeichnungen.

 

Ohne den Ergebnissen einer möglichen Stuttgarter Kommission vorgreifen zu wollen, wären folgende Fälle zu prüfen, zu denen es teilweise bereits aus anderen Städten bereits Ergebnisse entsprechender Arbeitsgruppen gibt.

 

Stuttgarter Fälle:

1) Ferdinand-Porsche-Gymnasium (beides in Zuffenhausen)

2) Hindenburgbau (Königstraße, Mitte)

3) Hanns-Martin-Schleyer-Halle (Bad Cannstatt)

4) Kurt-Georg-Kiesinger-Platz (am Hauptbahnhof)

5) Mauserstraße (Feuerbach)

 

  1. Ferdinand-Porsche-Gymnasium: Die Expertenkommission in Bremerhaven über Ferdinand Porsches Rolle in der NS-Zeit fest: „Er stellte den Prototyp des ausschließlich an technologischen Fragen interessierten Fachmanns dar, der sich aber andererseits nicht scheute, die Herrschenden direkt anzugehen, wenn es um die Interessen des Volkswagen-Werkes ging. Unter den Industrieführern der NS-Zeit nahm Porsche ebenso eine Sonderstellung ein wie in der politischen Führungselite.“[1] Nachgewiesen wurde Ferdinand Porsche unter anderem, sich aktiv um Insassen von Konzentrationslagern als Zwangsarbeiter*innen bemüht zu haben.
  2. Hindenburg: Die Freiburger Kommission kam im Falle Paul von Hindenburgs zu einem klaren Ergebnis: „Besonders schwerwiegend waren aber seine Berufung Adolf Hitlers zum Reichskanzler und seine nachfolgende Unterstützung. Als Reichspräsident hätte er niemals – und ohne Zwang – die Verordnungen und das Ermächtigungsgesetz unterzeichnen dürfen, die die freiheitlichen und demokratischen Grundrechte der Verfassung aufhoben und die nationalsozialistische Diktatur erst ermöglichten.

EMPFEHLUNG Umbenennung (einstimmig)“[2]

Auch die Hamburger Untersuchungen kamen zu einem klaren Ergebnis: „Durch die Unterzeichnung von Notverordnungen wirkte er direkt am Abbau der Demokratie, grundlegender Rechte und der Ausschaltung der politischen Opposition mit, und nur im Fall jüdischer Frontsoldaten intervenierte er zugunsten eines kleinen Teils der Be-troffenen dieser Politik.“[3]

  1. Hanns-Martin Schleyer: Zumindest auf den ersten Blick scheint Stuttgart die einzige Stadt in Deutschland zu sein, die Hanns-Martin Schleyer ehren wollte, in dem sie eine Mehrzweckhalle nach ihm benannte. Als prominentes Opfer der Rote Armee Fraktion (RAF) im Herbst 1977 ermordert ist Schleyer den meisten Menschen heute ein Begriff. Seine Rolle im Nationalsozialismus ist zumindest in Teilen unstrittig: „Nachweislich war Schleyer ein engagierter Nationalsozialist was sich an seiner frühen Mitgliedschaft in der SS ab 1933 ebenso wie an der Karriere in der nationalsozialistischen Studentenschaft zeigte“[4]

Schleyers Gesinnung während des Nationalsozialismus wird an folgendem Zitat aus dem Jahr 1935 deutlich: „Ich muss es allerdings ablehnen, daß man den Begriff der Treue, der uns Deutschen heilig ist, in irgendeiner Weise mit Juden in Verbindung bringt, und ich werde es nie verstehen können, da ein Corps aus der Auflage, zwei Juden aus der Gemeinschaft (der Corps) zu entfernen, eine Existenzfrage macht.“[5] Seine Karriere nach 1945 hatte er auch der Tatsache zu verdanken, dass er seine Dienstgrade in der SS als Untersturm- und Oberscharführer nach Kriegsende verschwieg.[6] Seine Rolle gilt es genauer zu untersuchen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

  1. Kurt-Georg-Kiesinger: Bekannt als Bundeskanzler der ersten sogenannten großen Koalition von 1966 bis 1969 hat auch er eine NS-Vergangenheit, die zumindest Fragen aufwirft: Bereits Ende Februar 1933 – also wenige Wochen nach der Machtergreifung Adolf Hitlers trat Kiesinger in die NSDAP ein. Kiesinger war in der Zeit des Nationalsozialismus im Auswärtigen Amt und beim Rundfunk tätig. Im Jahr 1945 trat Kiesinger in die CDU ein. In seine Amtszeit als Bundeskanzler fielen Gesetze, die zur Verjährung von NS-Kriegsverbrechen führten. Der Historiker Michael F. Feldkamp beschrieb Kiesinger als jungen Akademiker, „angesteckt von der NS-Ideologie, von einer starken Deutschtümelei und einem starken Nationalbewusstsein infiziert waren und sich begeistert den Nationalsozialisten anschlossen“[7]. Die Rolle Kiesingers gilt es weiter zu untersuchen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
  2. Mauserstraße: Der Name dieser Straße geht auf Franz Andreas Mauser zurück, der die Württembergische Gewehrfabrik in Oberndorf am Neckar gründete. Im Militärwaffenbereich etablierte sich das Unternehmen mit Produkten, wie etwa die Produktion des Standardgewehrs der Wehrmacht bis zum Jahr 1945. Während des Zweiten Weltkrieges setzte Mauser mehr als 5000 Zwangsarbeiter ein[8].

[1] Bericht der Expertenkommission zur Überprüfung des Straßenverzeichnisses der Stadt Bremerhaven im Hinblick auf etwaige Namensgeber aus der Zeit des Nationalsozialismus, 2012, S. 20

[2] Abschlussbericht der Kommission zur Überprüfung der Freiburger Straßennamen, 2016, Anlage 2 zur DRUCKSACHE G-16/212, S. 29

[3] Wissenschaftliche Untersuchung zur NS-Belastung von Straßennamen Abschlussbericht erstellt im Auftrag des Staatsarchivs Hamburg, 2017, S. 153

[4] Baumann, Cordia: Mythos RAF, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, Sammlung Schöningh Zur Geschichte und Gegenwart, 2012, S. 112

[5] Schleyer, Hans Martin: Corps ohne Maske. Ein Nationalsozialist zieht die Konsequenz, in: Der Heidelberger Student SS7 (1935), S. 5, Verweis auf Baumann, denn du zitierst eigentlich mich und hast das Original nicht gelesen.

[6] Hachmeister, Lutz: Schleyer. Eine deutsche Geschichte, C.H. Beck 2004, S. 29 ff., ebenso wie 5

[7] Michael F. Feldkamp: Kurt Georg Kiesinger und seine Studentenkorporation Askania auf dem Weg in Dritte Reich. In: Günter Buchstab, Philipp Gassert, Peter Thaddäus Lang (Hrsg.): Kurt Georg Kiesinger 1904–1988. Von Ebingen ins Kanzleramt. Herder, Freiburg 2005, S. 174.

[8] https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.waffengeschichte-koenig-gibt-startschuss-zur-waffenproduktion.1fb53653-5bb8-4aad-9510-d30f8be67874.html