Jobcenter-Praxis der neuen Rechtslage anpassen – Sanktionierungen über 30 Prozent des Regelbezugs sofort stoppen

Wir beantragen und fragen:

  1. Das Jobcenter erstellt eine Übersicht, wie sich die Verteilung bisheriger Sanktionsmaßnahmen in den letzten vier Jahren nach Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen darstellte und wie hoch die prozentualen Leistungsminderungen und deren Dauer waren. Aus den Übersichten/Diagrammen sollte zudem hervorgehen
  2. In wie vielen Fällen wurde vom Jobcenter eine Leistungsminderung von mehr als 30% des Regelbedarfs innerhalb eines Jahres verhängt?
  3. In wie vielen Fällen erfolgte eine Leistungsminderung mehrmals pro Jahr, so dass eine über 30%-ige Kürzung des Regelbezugs erfolgte, in wie vielen Fällen wurden die Leistungen komplett entzogen und was waren die Gründe dafür?
  4. Wie hoch ist die Sanktionierungsquote für die Unter-25-Jährigen und wie viele Fälle gibt es hier mit kompletter Leistungsminderung.
  5. Welche organisatorischen Maßnahmen ergreift das Jobcenter zur kurzfristigen Umsetzung des BVerfG-Urteils?
  6. Das Jobcenter beantwortet die Fragen schriftlich und berichtet dazu im Sozial- und Gesundheitsausschuss.

Begründung:

Den Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II wurden in der Vergangenheit finanzielle Leistungen bei Pflichtverletzungen – mindestens um 30 Prozent, teilweise um 60% oder sogar vollständig – gekürzt. Als Pflichtverletzungen gelten Verstöße gegen Eingliederungsvereinbarungen oder die Weigerung der Aufnahme/Fortführung einer zumutbaren Arbeit. Bei diesen Pflichtverletzungen werden Sanktionen verhängt, bei welchen 30% des Regelbedarfs zeitlich befristet – meist über 3 Monate – vom Jobcenter einbehalten werden. Bei „fehlender Mitwirkung“ und Ablehnung von Förderangeboten wurden üblicherweise befristete 10%ige Kürzungen des Regelbedarfs als Sanktion verhängt, bei wiederholten Versäumnissen wurde und wird die Kürzung gesteigert.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. November 2019 ein wegweisendes neues Urteil zur Praxis von Sanktionsmaßnahmen für Arbeitslosengeld II-Bezieher*innen gefällt.

So ist es ein Fortschritt, dass Sanktionen auf 30%-Kürzungen des Regelsatzes begrenzt werden und komplette Kürzungen der Regelsatzleistungen nicht mehr zulässig sind! Zudem muss jeder konkrete Einzelfall einer Härtefallüberprüfung seitens des Jobcenters unterzogen werden. Ebenso gilt nicht mehr die zwingende dreimonatige Sperre. Sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder “ Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen“, können Sperren aufgehoben werden. Wir begrüßen das Urteil, jedoch ist unsere Forderung, dass Sanktionierungen mit Leistungskürzungen ganzu abgeschafft werden müssen, da es sich um ein Existenzminimum handelt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum 30 %-Sanktionen gemäß dem Urteil weiterhin „verfassungsmäßig nicht zu beanstanden sind“ und zugleich das Gericht selbst feststellt: „Der gesetzgeberische Einschätzungsspielraum ist zwar begrenzt, weil das grundrechtlich geschützte Existenzminimum berührt ist“. Die grundsätzliche Frage, wieso ein grundrechtlich geschütztes Existenzminimum überhaupt unterschritten werden darf, bleibt daher leider unbeantwortet!

Ebenso ist durch das Urteil leider die Sanktionierung der unter 25-jährigen Leistungsbezieher*innen nicht eingeschränkt worden.

Es ist positiv, dass die Sanktionsquote im Jobcenter Stuttgart mit 1,4 Prozent weit unter dem Bundesdurchschnitt von 3,2 Prozent liegt. Das Jobcenter Stuttgart sieht, dass Sanktionierungen gerade für Menschen mit psychischen Problemen nicht zielführend sind. Viele Langzeitarbeitslose leiden aber gerade auch unter dieser und weiteren Einschränkungen.

Welche Konsequenzen ergeben sich für das Jobcenter Stuttgart aus dem neuen Urteil? Wie kann die Sanktionsquote noch weiter reduziert werden bzw. darauf verzichtet werden und welche organisatorischen Maßnahmen und personellen Ressourcen sind seitens des Jobcenters zur Umsetzung des Urteils erforderlich?