Liebe Freundinnen und Freunde,
wir sind in den letzten Jahren nicht nur gegen irgendeinen Bahnhof auf die Straße gegangen – wir stehen hier zu hunderten und tausenden, weil wir für eine klimagerechte Zukunft kämpfen. Wir kämpfen für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Boden, Wasser und Luft müssen geschützt werden. Dazu brauchen wir mehr Wind- und Sonnenenergie, statt mehr Gas und Öl, und wir brauchen vor allem eine nachhaltige Mobilität, mit mehr Fuß, Rad und Bahn und weniger private Autos.
Wir erleben aktuell drei große und weltweit stattfindende Krisen gleichzeitig. Die globale Corona-Pandemie, die großen Kriege in der Ukraine, im Jemen und in Syrien mit globalen Auswirkungen und die globale Klimakrise. Alle drei Krisen haben ihren Ursprung in der Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen auf unserer Erde. Das hinter diesen Krisen stehende System nennt sich Kapitalismus. Die Anhäufung von Reichtum in den Händen von Wenigen – auf Kosten der Vielen.
Diese wenigen Reichen, ob wir sie nun Oligarchen nennen, die mit Yachten auf den Weltmeeren herumfahren oder sie als Superreiche bezeichnen, die mit ihren Raketen ins All fliegen – sie sind gemeinsam die Hauptverursacher dieser Krisen. Sie häufen in ihren wenigen Händen so viel Reichtum an, dass die vorherrschenden Krisen mit ihrem Geld sofort gelöst werden könnten. Das wollen sie aber nicht, denn dann müssten sie ihren Reichtum teilen.
Zu diesen drei Krisen gesellt sich eine große Krise der Politik. Eine Politik, die nicht die Interessen der Vielen vertritt, sondern deren Ziel es ist, den Reichtum dieser Wenigen zu schützen. Die Politik ist nicht willens, die aktuellen Krisen ernsthaft zu lösen, da sie selbst vom vielen Reichtum der Wenigen profitiert. Manche Politiker sind sogar selbst Teil dieser wenigen Reichen.
Es ist an der Zeit, dass wir uns als die Vielen gegen diese Krisen wehren und uns mit der Wurzel dieses Übels auseinandersetzen. Wir müssen den Kapitalismus überwinden, um diese Krisen zu lösen. Wir müssen wegkommen vom Streben nach immer mehr Wachstum. Wir müssen hin zu einer Welt, in der wir schonend mit den natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit umgehen und diese fair auf dem Globus verteilen. Wer heute viel hat, wird morgen weniger haben. Daran führt kein Weg vorbei. Die Folgen sehen wir sonst jetzt schon: Dürren, Hunger, Flutkatastrophen, Flucht, Kriege, Pandemien, Tote, noch mehr Flucht. Die Welt brennt doch jetzt schon an viele Orten lichterloh!
Nach dem Leitsatz „Global denken, lokal handeln“ haben wir alle die Verantwortung und auch die Möglichkeit zu handeln und unseren Teil dazu beizutragen, die einzige Erde, die wir haben, zu erhalten – für unsere Kinder und Kindeskinder!
Ihr handelt lokal, hier auf der Straße gegen Stuttgart 21, Fridays for Future an vielen Freitagen im Jahr, wir machen das auch mit unserer Arbeit im Gemeinderat. Als Fraktion haben wir in den letzten Jahren viele Initiativen gestartet, gegen Stuttgart 21 und für eine nachhaltige Mobilität in unserer Stadt.
Wie Ihr stoßen auch wir mit unseren Initiativen seit Jahren in der Stadtverwaltung gegen eine Wand – und das trotz wechselnder Oberbürgermeister. Selbst bei Projekten, die offensichtlich zum Wohle aller Bürger:innen sind, und die wir mit einer Mehrheit im Gemeinderat beschließen, geht kaum etwas voran – oder sogar in die falsche Richtung.
Nehmen wir zum Beispiel die Planungen und Entwicklungen zur Gäubahn. Wir fordern seit Jahren einen Weiterbetrieb der Panoramastrecke. Wir fordern weiter den Erhalt oberirdischer Gleise, um beim verkorksten Tiefbahnhof das Schlimmste zu verhindern, damit kein Nadelöhr entsteht. Mit dem Projekt Umstieg 21 gibt es auch ein gutes Konzept, das einen Ausweg aus dieser Misere aufzeigt. Aber bisher hat sich niemand in der Stadtverwaltung Stuttgart ernsthaft damit befasst.
Laut dem eigenen Gutachten der Stuttgart-21-Projektgesellschaft wird mittlerweile bestätigt, dass ein Weiterbetrieb der Panoramastrecke und der Erhalt von oberirdischen Gleisen Sinn macht. Es muss verhindert werden, dass Züge aus Konstanz und Zürich über 10 Jahre lang vom Hauptbahnhof in Stuttgart abgehängt werden.
Ihr habt ja sicherlich mitbekommen, dass ich in Konstanz beinahe zum Oberbürgermeister gewählt worden wäre. Ich kann Euch sagen, dass die Menschen in Konstanz darüber entsetzt sind, dass sie über Jahre auf der Gäubahn nicht nur in Singen, sondern bald auch in Vaihingen umsteigen müssen, um an den Stuttgarter Hauptbahnhof zu gelangen. Eine Fahrt mit dem Zug von Konstanz nach Stuttgart verlängert sich somit auf bis zu drei Stunden. Schon heute braucht man im Vergleich dazu mit dem Auto nur rund 1,5 Stunden. Und statt die Gäubahnstrecke auszubauen, wie seit Jahren gefordert, wird aktuell die Bundesstraße von Singen nach Konstanz zur 4-spurigen Bundesstraße ausgebaut. Das wird eine neue Autobahn für noch mehr Autos. Das ist Wahnsinn, und eine Mobilitätswende ist in Südbaden und darüber hinaus damit unmöglich.
Alleine dieses Beispiels zeigt, dass die herrschende Politik in Land und Bund kein Interesse am Erreichen der Klimaziele hat. Sie belügen und betrügen uns – sie belügen auch die Jugend!
Die Stuttgarter Stadtspitze ist kein bisschen besser. Sie ignorieren ebenfalls alle Vorteile für den Nah- und Fernverkehr bei einem Weiterbetrieb von oberirdischen Gleisen. Sie fordern weiter vehement die Räumung des gesamten Gleisvorfelds, damit dann endlich gebaut werden kann. Damit dann noch mehr klimaschädlicher Beton zur Freude von Immobilienhaien verbaut wird.
In einem hat die Deutsche Bahn recht behalten. Es ging bei Stuttgart 21 nie um ein Bahnprojekt, sondern es ging immer um ein Immobilienprojekt. Und wie wir heute wissen, entstehen nicht die viel beschworenen „bezahlbaren Wohnungen“ im Rosensteinquartier, sondern es geht vor allem darum, dass Immobilienhaie, die Mafia und russische Oligarchen Geld mit S21 verdienen.
Diese Beispiele zeigen, dass nirgends ernsthaft und mit der gebotenen Dringlichkeit an einer echten sozialökologischen Mobilitätswende gearbeitet wird. Eine Mobilitätswende in Stuttgart ist insbesondere auch für das Wohlergehen der Stuttgarterinnen und Stuttgarter wichtig, die unter der Flut und dem Lärm der vielen Autos in der Stadt insgesamt leiden.
Wir müssen für Menschen, die zu Fuß gehen, mit dem Rad einkaufen, sowie mit Bus und Bahn zur Arbeit fahren, eine lebenswerte Stadt gestalten. Den Verkehr der Zukunft müssen wir aus dem Blickwinkel der Schwächsten im Straßenverkehr planen. Kinder und ältere Menschen haben Vorrang und stehen für mich an erster Stelle, dann Fahrradfahrende, danach Busse, Bahnen sowie Carsharing und dann das private genutzte Auto.
Wir haben als Fraktion und in einem Bündnis die Vision einer autofreien Innenstadt für Stuttgart entwickelt und im Jahr 2017 auch beschlossen. Wir wollen, dass der Beschluss endlich Realität wird. Die Stadtverwaltung hat uns allerdings mitgeteilt, dass sie das nicht vor dem Jahr 2030 hinbekommen.
Durch zusätzliche verkehrsberuhigte Zonen und Tempo 30 in der gesamten Stadt Stuttgart sollen neue Räume für sichere Rad- und Fußwege, Grünbereiche für Jung und Alt, Bäume und Spielplätze für Kinder entstehen. OB Nopper hat mit allen Mitteln versucht, uns am Beschluss für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit zu hindern. Dabei wollten wir uns mit 100 anderen Städten einer Initiative des Städtetags anschließen. Auch das will er und seine Autonarrenpartei CDU nicht.
Gleichzeitig setzen wir uns dafür ein, dass Stuttgart zu einer Modellregion für einen günstigen Nahverkehr wird. Wir fordern ein 365-Euro-Ticket als Übergang hin zu einem Nulltarif für alle. Das geplante 9-Euro-Ticket für 3 Monate zeigt, dass es geht. Aber warum nur für 3 Monate? Wir brauchen langfristig einen günstigen bis kostenlosen ÖPNV!
Und den Handel in der Innenstadt möchte ich an dieser Stelle beruhigen. Sie haben die Sorge, dass die Innenstadt ausstirbt, wenn wir eine echte Mobilitätswende umsetzen. Beispiele und Studien aus vielen anderen Städten zeigen, dass gerade der Handel von einer autofreien Stadt profitieren wird. Wo viele Menschen zu Fuß und mit dem Rad sicher unterwegs sind, stimmen auch die Handelsumsätze wieder. Erinnert Euch an die Königstraße, als die eine viel befahrene Straße war. Schaut Euch nun an, wie viele Menschen heute hier einkaufen, sich aufhalten und flanieren. Und dann ist es auch möglich, dass nicht nur konsumiert, sondern Menschen auch in der Innenstadt wohnen können.
Das sind allesamt Maßnahmen, die ohne größeren Aufwand umgesetzt werden können. Aber die Politik in Stadt, Land und Bund hat wenig Interesse daran, diese Maßnahmen umzusetzen. Auch nicht die Grünen, wie wir hier in Stuttgart und Baden-Württemberg schon lange wissen. Sie haben das Verkehrsministerium der FDP überlassen. Und die macht, was die FDP am besten kann: Sie schützt die Interessen der Reichen und Superreichen, die mit ihren zwei, drei Autos und SUVs die Luft verpesten.
Diese Bundesregierung bekommt es nicht einmal hin, ein Tempolimit auf Autobahnen zu beschließen. Das würde so gut wie nichts kosten, aber sehr schnell sehr viel CO2 und Mineralöl einsparen. Aber Verkehrsminister Wissing hat ernsthaft behauptet, ein Tempolimit sei nicht umzusetzen, weil die notwendigen Schilder dafür fehlen. Geht‘s noch?!
Die Welt brennt und ein Beitrag zur Rettung ist nicht möglich, weil es an Schildern für ein Tempolimit fehlt?! Mit dieser Politik, mit dieser Bundesregierung, dieser Landesregierung und diesem Oberbürgermeister wird das nichts mit einer echten Mobilitätswende!
Uns bleibt also nichts anderes übrig, als die Mobilitätswende selbst in die Hand zu nehmen! Wir müssen weiter konsequent gegen Stuttgart 21 auf die Straße gehen und einen Umstieg 21 erwirken. Wir müssen mit den jungen Menschen von Fridays for Future auf die Straße gehen und mit Ihnen Druck auf die Regierungen dieser Welt ausüben.
Herr Scholz, Herr Wissing, Herr Kretschmann, Herr Nopper: „Ihr werdet uns nicht los, wir Euch schon!“
Rede von Luigi Pantisano, Stadtplaner, Architekt und Stadtrat „Die FrAktion“, auf der 608. Montags-demo am 11.4.2022