„Der erste Luftreinhalteplan bestand aus politischem Schmuckwerk“ Interview mit Roland Kugler und Manfred Niess

Sie sind die Vorreiter, wenn es um Luftreinhaltung geht: Manfred Niess und Roland Kugler streiten seit 2004 vor Gericht für saubere Luft in Stuttgart. Im Interview mit Hannes Rockenbauch erzählen sie, wie sie Rechtsgeschichte geschrieben haben und was sie antreibt, auch nach 14 Jahren für die Einhaltung der Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide zu kämpfen.

Hannes Rockenbauch: Ohne bürgerschaftliches Engagement wäre beim Thema Luftreinhaltung wohl kaum etwas passiert. Was treibt euch an, beim Kampf um saubere Luft in Stuttgart?

Manfred Niess: Ich kam zu dem Thema über meine Tätigkeit als Lehrer am Zeppelin-Gymnasium in der Neckarstraße. Im Dachgeschoss des Gebäudes waren die Ski gelagert – dort haben sich seit 50 Jahren giftige Luftschadstoffe von der Kreuzung am Stöckach angesammelt. Jedes Mal, wenn ich aus dem Dachgeschoss kam, habe ich einen Hustenanfall bekommen. Es war furchtbar. Das war eine Initialzündung, um mich mit dem Thema Luftschadstoffe zu beschäftigen. Im Jahr 2004 habe ich schließlich die erste Klage eingereicht.

Hannes Rockenbauch: Wie hat es bei dir angefangen?

Roland Kugler: Das war glaube ich 1985, damals hatte ich eine Benzol-Klage gestartet am Verwaltungsgericht Stuttgart. Vor Ende des Verfahrens wurde Benzol verboten. Der Widerstand in Stuttgart hatte offensichtlich etwas bewirkt. Im Jahr 2004 haben sich dann die Wege von Manfred Niess und mir gekreuzt. Anfangs ging es nur um Feinstaub – weil die Grenzwerte seit 2005 gelten. Seit 2010 gelten die Grenzwerte für Stickoxide, die haben wir in die späteren Verfahren integriert.

Hannes Rockenbauch: Das ist aber trotzdem ein krasser Schritt, dass man wegen Luftverschmutzung vor Gericht zieht…

Roland Kugler: Anwälte klagen gerne. (schmunzelt)

Manfred Niess: Als Bürger klagt man nicht gerne. Aber das Problem ist, dass man Missstände anders offenbar nicht beenden kann.

Hannes Rockenbauch: Die Klage ist die eine Seite – wie wichtig ist es dir, auch konkrete Vorschläge zu unterbreiten, wie eine Verkehrswende gelingen kann?

Manfred Niess: Seit dem Jahr 2007 bin ich Koordinator beim Klima- und Umweltbündnis Stuttgart (KUS). Mit diesem Bündnis versuchen wir, das abstrakte Thema Klima auf die lokale Ebene herunterzubrechen. Das bedeutet: Verkehrswende, Energiewende und Klimaschutz. Beim Thema Verkehrswende haben wir schon viele Vorschläge gemacht, die fast alle im Papierkorb der Verwaltung gelandet sind. Das Erstaunliche ist, dass manche Vorschläge, die wir vor zehn Jahren gemacht haben, jetzt langsam umgesetzt werden. Beispiel: Schon im Jahr 2008 haben wir gesagt, dass man alle städtischen Fahrzeuge als Gashybridfahrzeuge beschafft bzw. umrüstet.

Hannes Rockenbauch: Aber schon 2004 hast du angefangen zu klagen….

Manfred Niess: Das war damals wegen der schlechten Luft. Als Radfahrer war man auf der Neckarstraße nie glücklich. Dass das nicht gesund war, am Neckartor zu fahren, das war mir damals schon klar. Der Fahrradverkehr muss massiv ausgebaut werden. Dieser Tage war ein Bericht in der Stuttgarter Zeitung über die Hauptradroute 1. Da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Das kann man doch nicht Hauptradroute nennen! Unter der Bahnunterführung zum Wilhelmsplatz in Bad Cannstatt zu fahren ist ein Alptraum. Ich war gerade in Kopenhagen – dort sieht man, was ein funktionierendes Fahrradverkehrssystem ist.

Roland Kugler: Politisch hat mich das Thema Luftreinhaltung als Mitglied der Grünen schon ewig interessiert. Die Frage war damals wie heute: Was kann man tun, um die Verkehrswende voranzubringen? Das war einer der Punkte, warum ich in den Gemeinderat gegangen bin.

Die erste Klage mit Manfred Niess war völliges Neuland. Wir waren bundesweit die ersten, die geklagt haben. Die meisten Verwaltungsgerichte in Deutschland, die mit Klagen auf Einhaltung von EU-Richtlinien befasst waren, hatten solche Klagen abgelehnt.

 „Mit dem ersten Verfahren haben wir Rechtsgeschichte geschrieben“

Hannes Rockenbauch: Ihr habt da also Rechtsgeschichte geschrieben?

Roland Kugler: Ja. Das später gestartete Verfahren in München hat uns aber überholt, weil der Verwaltungsgerichthof Mannheim das Verfahren nicht zeitnah entschieden hatte. Der Münchner Fall lag dann am Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dort wurde dann das bahnbrechende Urteil gefällt: Ein Bürger der Europäischen Union muss auf die Einhaltung von EU-Richtlinien klagen dürfen.

„Der erste Luftreinhalteplan bestand aus politischem Schmuckwerk“

Hannes Rockenbauch: Was passierte dann in Stuttgart?

Roland Kugler: Das Regierungspräsidium hat den ersten Luftreinhalteplan gemacht. Da standen dann solche Sachen drin wie „Die Messe soll vom Killesberg auf die Fildern umziehen“ oder der Bau des Nord-Ost-Rings und der Filderauffahrt und der weitere Ausbau der Straßenbahn. Also viel politisches Schmuckwerk, das waren alles keine Maßnahmen.

Manfred Niess: Die Politik hatte das wohl unterschätzt: Das Regierungspräsidium hat gesagt: „lasst die ruhig klagen“, die haben nach deutschem Recht kein Klagerecht. Das war eine Fehleinschätzung.

„Die Klage ist nach wie vor ein Instrument, die Politik zu zwingen, das Recht einzuhalten“

Hannes Rockenbauch: Heute sind die Gerichte mit den Maßnahmen sehr streng und erklären der Politik, wie man ein Urteil liest und was zu tun ist, damit die Bürger_innen geschützt werden. Deswegen die Frage an Roland Kugler: Wer war wirkungsvoller: der Anwalt Kugler oder der Stadtrat Kugler?

Roland Kulger: In diesem Falle glaube ich, war’s eher der Anwalt Kugler. Mit Hilfe der Gerichte konnte man etwas tun, wofür es damals keine politischen Mehrheiten gab. Das ist ja bis heute so. Für mich war es damals als Mitglied der Grünen viel erfreulicher gegen die Landesregierung zu klagen wie heute. Damals ist man mit einem lächelnden Gesicht aus dem Gerichtssaal gelaufen, heute geht man mit ernstem Gesicht ans Gericht. Aber man macht es weiter, weil man nach wie vor sieht, dass es ein Hebel ist, mit dem man die Politik zwingen kann, das Recht einzuhalten. Der Jurist kann ja nur dafür sorgen, dass das Recht umgesetzt wird, mehr geht nicht. Der Politiker muss ja eigentlich in die Zukunft denken und muss Regelungen für die Zukunft finden. Hier ist es jetzt ein völliger Rollentausch: Die Politiker sitzen da und starren auf das Gericht und warten, was das Gericht ihnen für zukünftige Regelungen vorschreibt. Da windet sich die Politik aus ihrer Verantwortung.

Hannes Rockenbauch: Die CDU als Koalitionspartner will sich nicht an die Gerichtsurteile halten. Das macht einen ja schon ratlos, wenn man als Landesregierung rechtskräftig verurteilt ist. Wie bewertet ihr den Umgang mit den neuesten Urteilen zum Thema Luftreinhaltung?

Roland Kugler: Ich bin da ziemlich erstaunt. Ich muss feststellen, dass der Koalitionspartner, der sich immer darauf beruft, staatstragend zu sein, nicht zur Kenntnis nehmen möchte, dass es in dieser Frage der Einhaltung der Grenzwerte keine politische Entscheidungsfreiheit mehr gibt.

Das Ende der Fahnenstange: Zwangshaft

Hannes Rockenbauch: Was ist, wenn die Hoffnung auf saubere Luft weiter enttäuscht wird? Macht ihr trotzdem weiter?

Roland Kugler: Das juristische Ende eines Prozesses ist die Zwangsvollstreckung. Derjenige, der verloren hat muss das Urteil umsetzen. In unserem Fall wird das Land jetzt mit Zwangsgeldern belegt. Das Land zahlt auch, es ist aber kein Problem. Das Geld kommt aus dem Verkehrsministerium und wird umgebucht ans Justizministerium – das ist ein reiner Buchungsvorgang. Maximal 10 000 Euro können verhängt werden.

Hannes Rockenbauch: Man kann wohl kaum davon ausgehen, dass eine unwillige Behörde wegen 10 000 Euro ihr Handeln ändert…

Roland Kugler: Es gibt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundsatz: Wenn eine Behörde Gerichtsurteile einfach nicht umsetzt, kann man die Zwangsmittel aus dem Zivilrecht heranziehen. Dort gibt es Zwangsgelder bis 250 000 Euro und die Möglichkeit, Zwangshaft anzuordnen.

Hannes Rockenbauch: Ihr wollt also wieder Rechtsgeschichte schreiben?

Roland Kugler: Das wäre natürlich interessant. Vor allem die Frage: Wer geht in Zwangshaft? Dazu gibt es aber bislang noch keine Entscheidung eines Gerichts – es wäre in der Tat Neuland.