Guntrun Müller-Enßlin

Rede zum Schwarzen Donnerstag am 30.09.2022 von Guntrun Müller-Enßlin:

Freundinnen und Freunde einer lebenswerten Stadt, liebe unentwegte Obenbleiberinnen und Obenbleiber, im Leben von jedem von uns gibt es Tage, die vergisst man nicht. Tage, an denen sich die Zeit teilt in ein Davor und Danach. Der 30. September 2010 war für mich so ein Tag.

Das Davor: Ein Jahr des Protests mit wöchentlichen Montagsdemos, damals unter der Federführung des unvergesslichen, knorrig-standhaften Gangolf Stocker, der mir in jener Zeit ein guter Freund geworden ist. Unser Schlossgarten mit seinen uralten Bäumen stand von Anfang an im Zentrum dessen, was wir schützen wollten, ja, eigentlich war er der Auslöser unseres Widerstands, für mich jedenfalls kann ich das sagen. Unzählige Initiativen sprossen im Sommer 2010 aus dem Schlossgartenboden wie Pilze, wir waren ständig auf der Straße, wir dachten an nichts anderes mehr als an „unseren Bahnhof, unseren Park, unseren Widerstand“, und am Anfang sah es gar nicht schlecht aus für uns. Als die Demos im Sommer 2010 hohe fünfstellige Zahlen erreichten, hätte wohl jeder von uns wie damals Sabine Leidig „ihre oder seine Hand dafür ins Feuer gelegt“, dass das Milliardenprojekt in den Orkus geschickt werden würde. Doch wir hatten die Rechnung ohne unsere Obrigkeit gemacht, einen hamsterbäckigen skrupellosen Ministerpräsidenten und sein Kabinett und eine schwache, der Staatsmacht willfährige Polizei. Ein Gespenst ging um in unserem Schlossgarten und raunte uns von der drohenden Rohdung desselben ins Ohr. Wir haben angefangen, uns vorzubereiten für den Ernstfall, den Tag X, haben Parkschützeralarm per SMS geprobt, sind nächtelang im Park patrouilliert, manche haben dort geschlafen.

Das war das Davor.

Dann kam der Tag, an dem es soweit war. Ja, es war Tag, nicht Nacht, wie wir es uns immer vorgestellt hatten. Ein stinknormaler blöder Donnerstag, an dem man in die Schule oder seiner Arbeit nachging; nur ein paar hundert verwegene Schulschwänzer waren bei der Schülerdemo „Bildung statt Bahnhof“ und als erste vorort. Jeder von uns, ob jung oder alt, ob Kind, Schüler, Vater oder Rentnerin, hat seine eigenen Erinnerungen daran – wo er war oder sie, als es losging, Zaungast oder mittendrin, Auge in Auge mit bis an die Zähne bewaffneten Polizisten, umgehauen von der Gewalt des Wasserwerferstrahls: die Erinnerung an die gebrochene Rippe, den geprellten Knöchel, die blauen Flecken, die blutenden Wunden; die zertrümmerte Brille war noch das wenigste. Der Biergarten, in dem das Mittagessen unter verbogenen Regenschirmen seinen Lauf nahm, als würden nicht ein paar Meter weiter Schülerinnen mit Schlägen und Reizgas schachmatt gesetzt und Demonstranten von Bäumen heruntergeschossen. Die bräsige schwäbische Lautsprecherstimme: „Machen Sie die Schdraße frei. Wenn Sie die Schdraße nicht frei machen, werden wir auch weiterhin Wasserwerfer einsetzen.“ Eine Groteske, unüberbietbar, allerdings viel weniger lustig. Leben und Gesundheit waren in Gefahr – das kapierte nicht nur, wer sich ins Getümmel gewagt und einen Treffer aus dem Wasserwerfer abgekriegt hatte. Die wenigsten von uns Mitstreitern hätten für möglich gehalten, dass die Staatsmacht, Menschen wie Du und ich, noch dazu in einer Demokratie lebend und wie wir selber Teil dieser Demokratie, zu so etwas fähig wären. Eine skrupellose machtbesessene Obrigkeit hat an diesem Tag die Hosen runter gelassen und sich enttarnt. Was damals mitten in Stuttgart geschah, war ein zivilisatorischer Rückfall, ein kriegerischer Akt gegen die eigene Bevölkerung, wie man ihn sonst nur aus totalitären Staaten kennt. Er gipfelte in das Auffahren von Kettensägen, die nach Mitternacht begannen, unsere Freunde, die Bäume im Schlossgarten, zu fällen, nein zu töten. Das war der Tag.

Das Danach:In mir ist nach dem Schwarzen Donnerstag etwas zerbrochen. Ich weiß noch, wie ich zu einer Fernsehmoderatorin sagte: Wenn Innenminister Rech nicht zurücktritt, dann ist mein Glaube an Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit mit diesem Tag endgültig flöten gegangen. Niemand ist damals zurück getreten. Weder Herr Rech noch Herr Mappus. Niemand hat sich entschuldigt bei den Geschädigten, im Gegenteil. Stattdessen folgte ein nicht enden wollendes Schmierentheater, ein Trauerspiel mit unzähligen Akten und noch mehr Pleiten, Pech und Pannen, das bis heute anhält. Nach der sogenannten Schlichtung, bei der es nichts zu schlichten gab, kam es zu einer unsäglichen Hetzjagd gegen die, die es trotzdem noch wagten, gegen den neuen Bahnhof zu sein, soviel zum Thema Demokratie. Die Geschädigten des Schwarzen Donnerstags wurden mit Borderline-Methoden kriminalisiert und von einer parteiischen Justiz derart eingeschüchtert, dass viele von uns sich nicht mehr getraut haben, Anzeige zu erstatten. Keiner von den damaligen Drahtziehern hat bis heute Verantwortung übernommen oder Reue gezeigt; alle laufen sie frei herum, sind das Karrieretreppchen hinaufgefallen statt hinunter und streichen Gehälter ein, bei denen einem schwindelig wird. Die perfide Rechnung, mit rechtswidrigen Methoden ein von Wirtschaft und Teilen der Politik gewolltes Projekt gegen alle Widerstände mit Gewalt durchzuprügeln, – unter dem Strich ist sie aufgegangen. Und das haben wir nun davon, wir die Stuttgarter Bevölkerung: die Stadt auf Jahrzehnte eine Baustelle, explodierende Kosten für einen „neuen“ Bahnhof, unnötig wie ein Kropf, nützlich nur für die, die sowieso im Geld ersticken, himmelschreiend klimaschädlich, himmelschreiend dreckig, stadtfeindlich, menschenfeindlich. Wer derzeit auf Stuttgarter Gleisen im Hauptbahnhof ankommt, hat eine Wanderung von ungelogen anderthalb Kilometern bis zum nächsten Taxistand am Bahnhofsvorplatz vor sich.

Das ist das Danach.

Freundinnen und Freunde – Mein Blick auf Politik und Politiker und ihr Geschäft, auf die Justiz hat sich seit dem Schwarzen Donnerstag vollkommen verändert. Heute wundert mich nichts mehr, auch nicht die erst jetzt im Sommer nach Akteneinsicht bekannt gewordenen Mauscheleien von Mappus und Co in Bezug auf die Schlichtung in teils unglaublichen Dimensionen; es wundern mich nicht die Lügen, die nachweislich geschworenen Meineide, nicht einmal die nackte Gewalt, mit denen die damaligen Machthaber über die friedlich Protestierenden hergefallen sind. Lange Zeit habe ich mich trotz meines kritischen Blicks auf die Mächtigen mit meinen Reden gegen Stuttgart 21 als Mutmacherin verstanden. Doch es wird zunehmend schwerer, in dieser Zeit an dieser Rolle festzuhalten. Schon als ich 2019 an dieser Stelle zum schwarzen Donnerstag gesprochen habe, war das so. Bereits damals habe ich das mittlerweile in der Gesellschaft angekommene Klimathema in seiner ganzen Bandbreite aufgegriffen. Die Klimakrise – auch sie das Ergebnis der einseitig orientierten Wachstumspolitik einer gewinnsüchtigen Wirtschaftslobby, die den Hals nicht voll kriegen kann. Drei Jahre später hat sich die Situation drastisch zugespitzt. Nach diesem Sommer, der in Europa als der heißeste seit den Wetteraufzeichnungen in die Geschichte eingehen wird, ist endgültig Schluss mit lustig. Die Hütte brennt – im wortwörtlichen Sinn. Zwischen dem 1. Januar und dem 18. August 2022 verbrannten in Europa über 760.000 Hektar Land, das ist so viel wie die Fläche von Belgien und der Schweiz zusammen. Anderswo ertrinken Menschen, halb Pakistan steht unter Wasser, der Bodensee war dafür halb leer, in den Alpen lässt die Schneeschmelze ganze Gletscher abbrechen, anhaltende Dürrekatastrophen und starke Tropenstürme nehmen Hunderttausenden Menschen ihr Leben oder dessen Grundlage. Spätestens seit diesem Sommer müsste auch dem und der Letzten in der Politik ein Licht aufgegangen sein: Es bedürfte nicht nur eines Kurswechsels sondern einer sofortigen radikalen Kehrtwende, um die Klimakatastrophe noch aufzuhalten, denn es geht um nicht weniger, als um das Überleben von uns als Menschheit. Doch nichts dergleichen geschieht. Niemand „gerät in Panik“, wie es sich Greta Thunberg schon vor vier Jahren gewünscht hat. Sehenden Auges fährt man den Karren gegen die Wand – es ist noch immer gut gegangen. Die Bewegung Fridays für Future wird genauso auf der Straße stehen gelassen, wie einst wir bei Stuttgart 21. Ich mache mir keine großen Hoffnungen, dass unsere Politik und die der Welt, so wie sie gestrickt ist, auch nur das Allerschlimmste verhindert, geschweige denn Abhilfe schafft. Die ungeschminkten Gesichter, die uns unsere gewählten Politiker manchmal ungewollt zeigen, so wie ehemals am schwarzen Donnerstag 2010, lassen mich sehr daran zweifeln, dass wir die Kurve noch kriegen. Aus meiner Sicht fehlt es sowohl am Willen, als auch an der Weitsicht der meisten Verantwortlichen in Schaltpositionen.

Was aber tun? Wir erinnern uns heute an den Schwarzen Donnerstag 2010. Wir lassen nicht zu, dass die skandalösen Machenschaften einer geldgierigen, auf den eigenen Vorteil bedachten Machtelite und ihre gewalttätigen Übergriffe auf die Bevölkerung in Vergessenheit geraten. Erinnern ist wichtig. Lebenswichtig. Vielleicht sogar ein Motor, der Menschen in kritischen Situationen alles daran setzen lässt, umzusteuern. Denn Erinnern ist ein Lerninstrument und zwar ein ganz Entscheidendes. Es ist kein Zufall, dass Gedenkorte immer auch zugleich als Lernorte deklariert werden. Umdenken fußt auf Lernen, es fußt auf der Erkenntnis: Schau, so war es, und das darf nie wieder passieren. Oder auch: So darf es nicht weitergehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Politik nach eigennützigen bevölkerungsfeindlichen Maßstäben agiert, heute weniger denn je. Auf Stuttgart bezogen, das sich nach wie vor für das neue Herz Europas oder auch für den Nabel der Welt hält, könnte das heißen: Keine neuen klimaschädlichen Großprojekte mehr! Und der Ausstieg aus Stuttgart 21, dem klimaschädlichsten Infrastrukturprojekt auf deutschem Boden, wäre ein erster Schritt. Liebe Freundinnen und Freunde, lasst uns nicht aufhören, uns zu erinnern! Lasst uns nicht aufhören, laut, unbeirrt und streitbar einzustehen für eine Welt, in der wir überleben. Oben bleiben!

Über mich als Stadträtin:
Stuttgart Ökologisch Sozial

Über meine Wahl in den Stuttgarter Gemeinderat und das Vertrauen meiner WählerInnen freue ich mich sehr.

In einem eher kirchenkritischen Elternhaus großgeworden, habe ich schon früh kapiert, dass soziale und ökologische Missstände menschengemacht sind. Dies und ein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit hat mich nach meinem Theologiestudium bewogen, Pfarrerin zu werden, hoffend, mit diesem Beruf in einer immer unbarmherziger agierenden Wettbewerbsgesellschaft zu einem Gegengewicht der Menschlichkeit beizutragen.

Theater, Klassik, Jazz und Blues, Literatur und Kunst – dem Fortbestand der vielfältigen Stuttgarter Kulturlandschaft, insbesondere der kleineren und kleinen Einrichtungen, gilt mein Einsatz im Gemeinderat

Seit ich meinen Beruf in Weilimdorf ausübe, interessiere ich mich für das Leben in Stuttgart. Zum Beispiel dafür, wie, was und für wen hier gebaut wird und die Geisteshaltung, die hinter der „Entwicklung“ bestimmter Stadtviertel und ihrer Bauprojekte steht. Für wen und was in dieser Stadt Geld da ist und wofür nicht.

Die in den letzten Jahren immer deutlicher werdende Ausrichtung allein an Gewinnmaximierung und Wirtschaftswachstum haben mich zu einer überzeugten Anhängerin des Grundeinkommens werden lassen, das Arbeit und Einkommen trennt.

Aus denselben Gründen war ich von Anfang an überzeugte Gegnerin von Stuttgart 21, was mich 2009 zur Bürgerbewegung gegen das Milliardenprojekt brachte. Ein Projekt, für das so viel Schönes, Nützliches und Funktionstüchtiges kaputt gemacht werden muss, kann nicht gut sein. Auf Demos habe ich mich mit vielen Redebeiträgen gegen Stuttgart 21 engagiert. Noch immer will mir nicht in den Kopf, dass unsere Stadt sich von den Egoismen eines Konzerns bestimmen lassen muss statt von den Bedürfnissen ihrer eigenen Bevölkerung.

Bis jetzt habe ich ausschließlich auf außerparlamentarischem Feld versucht, politisch etwas zu bewegen. Ich bin gespannt, inwiefern ich auf parlamentarischer Ebene den einen oder anderen Akzent setzen kann. Besonders wichtig ist mir ein Umdenken in Sachen Stadtentwicklung und hierbei die Erstellung von bewohnbarer und bezahlbarer Architektur, die auch ästhetischen Ansprüchen gerecht wird.

In der neuen Fraktionsgemeinschaft fühle ich mich am richtigen Platz und freue mich auf die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen.