Warum es noch lange nicht zu spät ist für einen „Umstieg 21“!
Die letzte Woche hat uns drei bahnpolitisch bedeutsame Ereignisse beschert, an die man sich noch lange erinnern wird.
Neuer ICE 4: Erst wurde der ICE 4, die neue und grundlegend veränderte Generation der Fernverkehrszüge vorgestellt, mit bemerkenswerten Veränderungen zu den Vorgängermodellen. Und, wie leider so oft bei der Bahn, viel später als geplant.
Grundsteinlegung: Dann wurde am Freitag letzter Woche die sog. Grundsteinlegung für den Kellerbahnhof vorgenommen, auch mit viel Presse-Tamtam und hysterischer Erregung darüber, dass Herr Kretschmann, Herr Kuhn und Herr Hermann sich entschuldigen ließen. Manche haben das als Feigheit interpretiert, andere als Mut.
Rechnungshofgutachten: Und schließlich hat der Bundesrechnungshof dem Parlament seinen kritischen Bericht zur „Realisierung des Großprojekts Stuttgart 21“ vorgelegt, in dem er der Bundesregierung und vor allem dem Verkehrs- und Finanzministerium massive Versäumnisse in der Kostenkontrolle und Unsauberkeiten in der Finanzierung vorwirft. Der parallele Bericht zur Kostenentwicklung liegt leider noch nicht vor, aber er wird wohl die neue Größenordnung von 10 Mrd. € beinhalten, die dann belegt, dass das Projekt vollends aus dem Ruder läuft und nun wirklich ein Fass ohne Boden zu werden droht. Die bisherigen Kostenträger werden sich wie die Kesselflicker streiten, wer die Mehrkosten tragen soll und am Ende wird es wohl zu einem so noch nie dagewesenen Rechtstreit zwischen Stadt, Land, Bund und DB kommen.
Über die drei aktuellen Ereignisse will ich ihnen ein paar Nachdenklichkeiten präsentieren.
Prolog
S 21 ein lokales Thema? Nein, das geht die ganze Republik an: Ich beginne mit meiner mehrfach hier bei Montagsdemonstrationen vorgetragenen Kritik, dass der Rest der Republik immer wieder so tut, als handele es sich hier allein um ein lokales Problem, weil die Stuttgarter sich über eine neuen Bahnhof stritten. Angesichts der finanziellen Dimensionen ist schon lange klar: dieses Projekt hat Auswirkungen bis in den letzten Winkel von Deutschland. Es nimmt der Bahn den nötigen finanziellen Spielraum, zu gleichen Zeit die vielen dringenden Baumaßnahmen an anderen Stellen anzugehen. Die Bilanzen sind eh schon verhagelt durch die Misere im Personenfernverkehr und bei der Güterbahn. Da wird zu wenig Geld verdient. Umso mehr monopolisiert S 21 weiter Kapital und Personal und in Köln, Hannover, München, Nürnberg, Mainz, Hamburg und an vielen anderen Stellen kommen wichtige Bahnprojekte nicht recht voran. Also, liebe Frau Merkel, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands beweist sich nicht daran, ob S 21 zu Ende gebaut wird, sondern ob das Deutsche Bahnnetz endlich angemessen ausgebaut und modernisiert wird. Und dafür wäre es dringend nötig, in Stuttgart pragmatisch, realistisch und undogmatisch jetzt das Beste aus der Situation zu machen. Umschwenken, Umsteigen, oben bleiben und viel schneller als bisher geplant das Netz leistungsfähig machen, nicht durch ein großes Loch mit vielen Röhren sondern durch viele kleine Maßnahmen. Deswegen brauchen wir nicht nur Eure Montagsdemos in Stuttgart, die weltweit einzigartig sind, sondern wir brauchen an vielen anderen Bahnbrennpunkten einen vergleichbaren Aufstand gegen verfehlte Bahnpolitik.
- Neue ICE Generation
Mit viel „Pressetamtam“ wurde der ICE 4 der Öffentlichkeit vorgestellt. Er soll Hoffnungsträger einer neuen Bahnpolitik werden. Nun, geplant war der „Roll out“ eigentlich viel früher. Trotzdem könnte in einem Punkt der ICE 4 Meilenstein einer späten Einsicht werden. Warum das?
Begrenzte Geschwindigkeit: Die Höchstgeschwindigkeit wird begrenzt. Endlich. Denn Deutschland als polyzentrisches Land mit vielen Städten und kurzen Abständen von HBF zu HBF war anders als Frankreich, Russland, Japan, China, USA, Saudi-Arabien oder Canada nie prädestiniert für Züge mit 300 km/h und die entsprechenden Bolzstrecken. Die Zeit des „höher, schneller, weiter“ passt sowieso nicht zu den Herausforderungen moderner Klimapolitik. Späte Einsicht hat die Konstrukteure jetzt motiviert, die Geschwindigkeitsauslegung zurückzunehmen. Das spart nebenbei auch Energie und Gewicht und Infrastrukturkosten. Und ermöglicht so, die parasitäre, monopolistische Fixierung auf wenige Bolzstrecken aufzugeben. Man hätte viele Milliarden sparen können, wenn man schon früher von der Vorgabe von 300 km/h für Neubaustrecken abgegangen wäre. Es war ja sowieso paradox genug, dass auf manchen wichtigen Relationen die sog. Hochgeschwindigkeitsbahn sehr viel langsamer war als die gute alte Bahn vor 30 oder 50 Jahren.
Eine Einschränkung bei diesem Lob gibt es allerdings. Die meisten Neubaustrecken sind ja bereits gebaut und für 300 km/h oder mehr ausgelegt. Das gilt für Frankfurt/M – Köln ebenso wie für Nürnberg- Erfurt- Berlin. Und selbst die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm ist für 250 km/h ausgelegt. Alle diese Betonorgien wären nicht nötig gewesen, wenn man ein anderes Verständnis von Geschwindigkeit gehabt hätte: Nicht Spitzengeschwindigkeit auf der Strecke, sondern Systemgeschwindigkeit im Netz, und zwar innerhalb eines Integralen Taktfahrplans. Wann kommt denn endlich der Deutschland-Takt?
Damit wird Bahnbau wieder flexibler und braucht weniger Tunnels und Brücken: Statt teurer Tunnels kann der Bahnbau jetzt wieder kostengünstiger, landschaftlich und städtebaulich besser integriert gestaltet werden. Dann kriegt man für das gleiche Geld deutlich mehr Netz.
Und muss nicht immer gleich unter die Erde oder an den Stadtrand mit den Schienen wie beim TGV in Frankreich. Tunnels nur noch da, wo es echte Vorteile bringt, so wie beim Gotthardtunnel unter den Alpen oder bei den vielen Rhein-, Mosel- oder Neckarschleifen, wenn richtige Berge den Weg versperren.
Ob diese Botschaft allerdings auch in Stuttgart gehört wird? Der Slogan „oben bleiben“ hat ja einen vielfachen, sehr ernsten Hintergrund.
Oben ist flexibler: Oben kann man flexibel an den Kapazitäten arbeiten. Mit ein paar Überwerfungsbauwerken wie im Konzept K 21 kann man ohne zusätzliche Gleise die Kapazität trotzdem erweitern. Unten ist man eingemauert, ein für alle male.
Da ist kein Platz mehr für Verkehrswende, für eine Bahnrenaissance. Da regiert der Flaschenhals. Und macht den unterirdischen Bahnknoten Stuttgart zum ärgerlichen Engpass.
Oben mehr Kapazität als unten: Und zwar im doppelten Sinne: erstens wegen der Gleiskapazität. Die ist nachher kleiner als beim alten Hauptbahnhof und erst recht kleiner, als wenn der Hauptbahnhof wie bei K 21 noch weiter ertüchtigt worden wäre. Die vorhandenen 16 Gleise – gerade richtig für einen effizienten Umsteigeknoten Stuttgart – sollen in einen unterirdischen Flaschenhals von 8 Gleisen gepresst werden – das ist absurd.
Zweitens wegen der Bahnsteigkapazität. Der viel gerühmte Architekt Ingenhoven hat eben nicht bedacht, welche Menschenmassen auf einem solchen Bahnknoten hin- und her wogen und wie wenig Platz neben seinen Säulen dann noch bleibt. Mit dem Beginn einer Verkehrswende würden aber in Deutschland und damit auch in der Region Stuttgart drei oder viermal mehr Menschen Bahn fahren und dann da unten im Keller zwischen Nahverkehr, Regionalverkehr und Fernverkehr umsteigen sollen. Auf elend langen Wegen. Mit schlecht funktionierenden Rolltreppen und Aufzügen. Und auf schmalen Restflächen. Was für ein Albtraum für die künftigen Fahrgäste, zumal die Alten, die dann schnell zum Opfer der Ellenbogengesellschaft werden. Welche ein Unterschied zu den großzügigen Bahnhofkonstruktionen der Gründerzeit, gerade bei den berühmten Kopfbahnhöfen wie Frankfurt, Leipzig oder auch der spätere Hauptbahnhof von Stuttgart, eine Ikone der Moderne, leistungsfähig, kundenfreundlich und architektonisch sehr ambitioniert. Da gab es große Hallen, viel Platz für die Menschen und kurze Wege zu ebener Erde. Kein Labyrinth von Auf- und Abgängen.
Flexiblere Zugkompositionen: Doch zurück zum neue ICE. Er hat auch Symbolcharakter für ein neues Bahnzeitalter. Denn er erlaubt endlich wieder flexiblere Zugkompositionen. Nicht jeder ICE muss gleich lang sein, mit maximaler Kapazität. Es darf auch kürzere ICE-Züge geben. Das erlaubt die Rückkehr zu wirtschaftlichen Zugkonzepten. Wenn man dann noch die späte Einsicht beachtet, dass beim IC nun auch Doppelstockzüge in unterschiedlichen Längen verkehren, dann könnte man fast hoffen, dass nun bald auch der InterRegio wiedergeboren wird. Und dass es dann vorwärts geht mit der Bahn und nicht rückwärts wie in den letzten Jahren, in denen trotz gigantischer Milliardeninvestitionen der Personenfernverkehr immer weniger Erfolg hatte.
Abschied von der sturen Dogmatik: Jedenfalls symbolisieren dieses neuen Zugkonzepte den Anfang vom Abschied von der sturen Bahndogmatik eines Herren Mehdorn, dem jede Flexibilität abging. Doppelstocktraktion war lange „bä“, weil die DDR so fuhr. Dann war sie „bä“, weil das nur Nahverkehr war. Und jetzt darf auch die Fernbahn DoSto fahren und breite Türen haben? Man staunt über so viel Flexibilität des Managements. Könnte die Bahn nicht auch flexibel genug werden, sich vom Dogma des „Augen zu und durch“ bei S 21 zu verabschieden? Flexibler werden, Umstiegsoptionen suchen, kreativ fragen, was man mit dem bisher Gebauten sinnvoll machen kann? Dafür haben die Initiativen gegen S 21 ja zahlreiche Ideen entwickelt, die helfen können, dass in die bisherigen Baumaßnahmen doch noch tiefer Sinn kommt, für die Verkehrs- und Stadtentwicklung in Stuttgart, ohne dessen Funktion als Bahnknoten zu ruinieren.
- Grundsteinlegung oder Grabsteinlegung
Der Festakt am Freitag war schon sehr speziell. Eigentlich hätte man sich dafür einen Kellerraum aussuchen sollen, denn der neue Bahnhof wird ja ein Kellerbahnhof. Der Architekt, Herr Ingenhoven hat in seiner Rede betont, dass dieser Bahnhof symbolisch sei für die neue Bahn? Na, prost Mahlzeit! Noch ein paar solcher Projekte kann sich die Republik nicht leisten. Und so schlecht war die alte Bahn, von der er sich offenbar mit Grausen abwendet, nicht mit ihren als „Kathedralen des Fortschritts“ gestalteten Hauptbahnhöfen. Natürlich oben, natürlich repräsentativ, natürlich städtebaulich integriert, natürlich nicht vom Autoverkehr umtost sondern optimal mit Straßenbahnen verknüpft, mit wunderbaren Schmuckplätzen gestaltet und in enger Symbiose mit dem benachbarten Hauptpostamt, Telegraphenamt und edlen Hotels. Das war alte Bahnkultur, von der sich Herr Ingenhoven ein Stück abschneiden könnte. Die wurde früher auch beispielhaft in Stuttgart verwirklicht, wie man auf alten Postkarten vom Bonatzbau sieht. Mit einem verkehrsberuhigten Vorplatz, Straßenbahngleisen und ebenerdigem Gang zur Schloßstraße. Erst die autogerecht aufgeweiteten Schnellstraßen haben den Bahnhof massive entwertet, bevor dann auch noch die Bagger kamen.
Warum diese Radikaloperation in Zeiten behutsamer Stadterneuerung? Der eigentliche Vorwurf aber geht an Herrn Prof. Heimerl, den geistigen Vater von S 21. Er hätte wissen müssen, dass es viel wichtiger ist, das Bahnhofsumfeld endlich vom gigantischen Autoverkehr zu befreien, um anstelle der vielspurigen Autostraßen städtebauliche Integration zu ermöglichen. Und er hätte bei seinen Kollegen Städtebauern nachfragen sollen, warum bestandsorientierte, behutsame Stadterneuerung so wichtig ist, ein wirkliches Markenzeichen deutscher Stadtentwicklung seit den 1980er Jahren. Dann hätte er eine solche Radikaloperation am offenen Herzen nicht erfunden und sich der behutsamen Politik der kleinen Schritte gewidmet.
Warum dominieren die Interessen der Bau- und Immobilienpolitik die Bahnpolitik? Ein Grund für die Begeisterung für solche Großprojekte war und ist der Druck von Spekulationsinteressen und Bauwirtschaftsinteressen im Bahnmanagement. Es geht um gewinnbringende Bodenspekulation mit den Filetgrundstücken der Bahn und um Milliardenaufträge für die Monopolisten unter den Tunnelbauern. Das hat Winfried Wolf in seinen Reden auf Euren Montagsdemos immer wieder belegt, auch mit Zitaten des früheren Bahnchefs Dürr und von dem damaligen MdB und heutigen Landesverkehrsminister Winfried Hermann, dem Heinz Dürr von Tokyos und New Yorks unterirdischen Bahnhöfen und darüber errichteten Konsumtempeln vorgeschwärmt hatte. Die Bahn als Bodenspekulant war in den 1990er Jahren Hauptmotiv für die Börsenpläne der Bahnchefs, allen voran Mehdorn.
Wo bleibt der Dialog der Grünen? An die hohe Politik, zumal die Grüne, geht der Appell, sich endlich wieder dialogfähig zu zeigen, statt sich immer nur rituell hinter dem angeblich bindenden Votum der Volksabstimmung zu verstecken. Was hätte denn dagegen gesprochen, wenn die Herren Kretschmann, Hermann und Kuhn offen über ihre Nöte im Umgang mit dem Projekt gesprochen hätten? Jeder mit einer eigenen, ehrlichen Rede. Alle drei hätten dem Bund und der DB ihre mangelnde Kostendisziplin vorwerfen und Verhandlungen über einen Exit anbieten können, wie man jetzt endlich schneller, kostengünstiger, risikoärmer aus der verfahrenen Situation rauskommt.
Werden Feuerwehr und Rechnungshof zum Stolperstein? Müssen denn erst die Feuerwehr mit ihren Beanstandungen in Sachen Brandschutz, Rauchabzug, Rettungswege und der Rechnungshof in Sachen sparsame Haushaltsführung und akribische Kostenkontrolle durch den Bund der Sturheit Einhalt gebieten? Und am Ende ein unsäglicher Rechtsstreit zwischen Bund, Land, Stadt und DB, wer die ungedeckten Mrd. denn nun zahlen soll? Man wird ja schwerlich den UN-Generalsekretär oder den Außenminister Steinmeier (beides berühmte Unterhändler für komplizierte Konfliktsituationen) herbeirufen können, um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu suchen oder gar Herrn Geißler aufs Neue bemühen.
Große Risiken bei S 21: Denn so fröhlich, wie die Grundsteinleger am Freitag getan haben, ist die Lage keineswegs. Es gibt riesige Risiken. Der nächste Wassereinbruch wird schon noch kommen. Im Berg gibt es viele Überraschungen. Die Preise werden weiter steigen und die Kosten explodieren. Die Fertigstellung wird sich immer wieder verzögern. Die Pendler werden weiter leiden.
Die Rolle der Kanzlerin: An die Kanzlerin, die mit ihrem „Ukas“, S 21 müsse gebaut werden, weil sich daran die Zukunftsfähigkeit Deutschlands beweise, geht der Appell, sich auf ihre Rolle als Klimakanzlerin und Energiewendekanzlerin zu besinnen. Die Zukunftsfähigkeit deutscher Verkehrspolitik erweist sich an der Qualität des ganzen Bahnsystems. Da ist vieles marode. Da sind Tausende von Projekten nötig, um das Netz leistungsfähig zu machen. Da braucht es viele neue S-Bahnen, viele neue Bahnhöfe, viele Weichen und Überholgleise, viele Güterbahnanschlüsse, also ein Zukunftsprogramm Bahn. Stattdessen S 21 für das Hauptproblem deutscher Bahnentwicklung zu stilisieren, ist fatal. Man muss aufhören, gerade da, wo die Bahnsysteme einigermaßen gut funktionieren, zu investieren (in Wahrheit sind das ja oft eher Desinvestitionen wie bei S 21 oder in Leipzig), sondern man muss vor allem da investieren, wo Bahnen fehlen, wo Strecken reaktiviert werden müssen, wo wirklich neue Bahnhofe nötig sind. Also in eine große Flächenbahn statt in eine kleine Korridorbahn.
- Die Rolle des Rechnungshofs
Klare Forderungen des BRH: Bislang reagierten der Bund und seine Fachressorts immer eher genervt auf die Berichte des Bundesrechnungshofes. Angesichts der finanziellen Dimensionen des Lochs in der Finanzierung und des dramatischen Überschreitens der bislang hoch gehaltenen Kostendeckel wird man das nicht nur als lästig abtun können. Zumal ja die Institution Bundesrechnungshofe im Grundgesetzt verankert ist. Die Leute, die dort arbeiten, können auch deshalb so hartnäckig am Ball bleiben und in Stuttgart buchstäblich „in die Tiefe gehen“, weil sie nicht wie z.B. das Eisenbahnbundesamt einem Ministerium unterstellt sind, von dem sie „auf Linie“ gebracht werden können. Es war übrigens unser Freund Peter Conradi, der immer wieder auf die Unbestechlichkeit der Rechnungshofbeamten verwiesen hat, völlig zu Recht, wie wir heute mal wieder sehen.
Parlament muss Aufklärung fordern: Das Parlament, das den Bericht erhalten hat, wird den beiden hauptzuständigen Ministern für Finanzen und für Verkehr und digitale Infrastruktur intensive Fragen stellen müssen. Bei diesen Dimensionen reicht es nicht aus, mit irgendwelchen Buchungstricks zwischen den verschiedenen Töpfen von Bundesmitteln, EU-Mitteln-, Landesmitteln und Stadtmitteln zu jonglieren. Aus dem bisher im Haushalt vorgesehenen, gedeckelten Bundesbetrag von 500 Mio € sind mittlerweile 1,65 Mrd € geworden. Bislang wurde immer so getan, als sei S 21 am Ende ein eigenwirtschaftliches Projekt der Bahn. Der von Herrn Grube nach seinem Amtsantritt festgelegte Kostendeckel von 4,5 Mrd. ist ja längst gesprengt. Bei den absehbaren 10 Mrd. zum Stand 2016, die der BRH annimmt, fliegen nun auch Bund, Land und Kommune sämtliche anderen Deckel „um die Ohren“.
Am Anfang ein „Goldprojekt mit höchster Gewinnerwartung“: Anfangs hoffte Herr Dürr ja auch auf riesige Erlöse aus den Immobilien, die so nie realisiert werden können. Und jetzt droht eine immer größere Finanzierungslücke. Nun gut, bankrott gehen können Bund, Land und Stadt deswegen nicht. Aber ihre sonstigen Handlungsspielräume können sich dramatisch verengen. Das gilt erst Recht für die DB, deren Gewinnerwartungen in den letzten Jahren ohnehin stark zusammengeschmolzen sind.
„Schwarze Peter Spiel“ wird nicht klappen: Wenn sich Herr Dobrindt jetzt zurücklehnt und reklamiert, die Bahn solle selber sehen, wo sie das nötige Geld herbekommt, ist das ein sehr mehrwürdiges Verhalten des „Eigentümers“, der das veränderte Schienennetz in Stuttgart ja als Teil der Schienenwege des Bundes betrachtet. Und ob das berühmte „mir gäbet nix“ von Stadt und Land als Reaktion auf die gigantische Lücke ausreicht, darf bezweifelt werden. Vielleicht sind die Herren Kretschmann, Hermann und Kuhn ja auch deswegen nicht zur Grundsteinlegung gekommen, weil sie Angst hatten, dass sie beim Blick in das tiefe Loch (Bauloch und Finanzloch) eine öffentliche Ohnmacht ereilt hätte.
Epilog
Auch ich komme zu dem Ergebnis, dass es im öffentlichen Interesse ist, diese Risiken klar zu erkennen und die Eigendynamik der weiteren Eskalation zu beenden. Ich habe dieses verheerende Projekt mit meinen Kollegen der Fachleutegruppe „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ über alle die Jahre intensiv verfolgt. Viele von uns haben bei Montagsdemos Reden gehalten und werden dies auch weiter tun. Wir alle sagen und fordern: Es braucht ein Moratorium, die berühmte „Sprechklausel“ muss gezogen werden, die mit „Umstieg 21“ perfekt erarbeiteten Möglichkeiten für einen Umstieg auf eine kleinere, schnellere, für die Bahnnetzentwicklung bessere, preiswertere Lösung müssen schnell – unter Einbeziehung der vielen kreativen Ideen aus dem Bereich der Initiativen – erörtert werden. Die damit verbundenen Risiken gegenüber den bereits beauftragten Firmen und ihren Baulosen sind überschaubar. Die Risiken einer weiteren Kostenexplosion bei Fortsetzung wie bisher sind nicht überschaubar. Man braucht jetzt politischen Mut. Und notfalls einen Moderator, der allen Beteiligten hilft, über ihren Schatten zu springen.
Heiner Monheim war Professor für Raumentwicklung und Landesplanung an der Universität Trier und Mitbegründer des VCD, der Initiative für eine bessere Bahn, von Bürgerbahn statt Börsenbahn und Bahn für Alle. Autorenadresse: heinermonheim@yahoo.de