Wir beantragen:
1. Die Verwaltungsspitze legt dar, wie viele Strafanzeigen von den Verkehrsbetrieben wegen Fahrens ohne gültigen Fahrschein im Zeitraum 2019 – 2023 pro Jahr gestellt wurden.
2. Wie hoch sind die jährlichen Ausgaben für das Kontrollpersonal und die damit verbundenen Verwaltungskosten und wie haben sich diese Kosten seit 2019 entwickelt?
3. Der Gemeinderat der Landeshauptstadt Stuttgart fordert den Aufsichtsrat der Verkehrsverbunds Stuttgart (VVS) auf, sich dafür einzusetzen, auf Strafanzeigen wegen Fahrens ohne gültigen Fahrschein nach §265a StGB zu verzichten.
Begründung:
Die Kriminalisierung von Fahren ohne gültigen Fahrschein betrifft Menschen mit geringem Einkommen ganz besonders. Vielfach sind es gerade Armut und eine schwierige Lebenssituation, die zu einer Fahrt ohne gültigen Fahrschein führen. Unser langfristiges Ziel, den ÖPNV in Stuttgart perspektivisch solidarisch über eine Nahverkehrsabgabe zu finanzieren, würde das Problem der Kriminalisierung von Menschen, die ohne Fahrschein fahren, ebenfalls lösen. Ein ticketfreier ÖPNV würde das Problem lösen und finanzielle wie personelle Ressourcen freisetzen.
Das Fahren ohne gültigen Fahrschein kann nach §265a des Strafgesetzbuches mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden. Von diesem Paragraphen sind deutschlandweit 7000 bis 10 000 Bürger:innen betroffen. Für eine Änderung dieser Gesetzeslage ist der Bundesgesetzgeber zuständig. Auf kommunaler Ebene besteht jedoch ein Handlungsspielraum, zumal es sich bei dem Tatbestand der sogenannten Leistungserschleichung nach §265a StGB um ein Antragsdelikt handelt. Das bedeutet, dass es der Verkehrsverbund in der Hand hat, ob er Anzeige erstattet oder nicht. Städte wie Bremen oder Düsseldorf haben bereits darauf verzichtet, Strafanzeigen gegen Personen zu stellen, die ohne gültigen Fahrschein im ÖPNV erwischt wurden.
Dieser Paragraph 265a des Strafgesetzbuches wurde im Jahr 1935 unter der Herrschaft der Nationalsozialisten eingeführt und gehört schon allein deshalb abgeschafft.
Neben der Tatsache, dass für die Verfolgung von Personen die ohne gültiges Ticket unterewegs sind, viele personelle und finanzielle Ressourcen gebunden werden, betrifft dies vor allem Menschen die von Armut betroffen sind. Haftstrafen wegen Fahrens ohne Ticket verschärft in den allermeisten Fällen auch noch die ohnehin prekäre Situation der Betroffenen.
Eine Kriminalisierung von Fahren ohne Fahrschein steht dem Ultima-Ratio-Prinzip des Strafrechts entgegen. Ein zivilrechtlicher Anspruch der Verkehrsbetriebe kann unabhängig von einer strafrechtlichen Verfolgung geltend gemacht werden.
In einer Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages zum Gesetzentwurf der LINKEN zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein (BT-Drs. 20/2081) war zum Thema Fahren ohne gültigen Fahrschein zu lesen, „(…) dass ein völlig unauffälliges Verhalten genügt, um den Straftatbestand zu verwirklichen. Die Tatbegehung erfordert allenfalls eine äußerst geringe kriminelle Energie. Zugleich wird nur ein geringer Schaden durch den einzelnen Schwarzfahrer beim Verkehrsunternehmen verursacht. Infolgedessen ist es äußerst fraglich, ob an der geltenden Rechtslage mit Blick auf das ultima-Ratio-Prinzip festzuhalten ist.“