Tablets als Erziehungsinstrument? Fragen zum „Konzept zur praktischen Medienarbeit in städtischen Kindertagesein¬richtungen“ des Jugendamts

Das Jugendamt hat ein „Konzept zur praktischen Medienarbeit in städtischen Kindertagesein­richtungen“ (2022) erarbeitet, mit dem die Ausstattung der Kindertagesstätten mit Tablets als Erziehungsinstrumente verwirklicht werden soll.

Wir bitten wir das Jugendamt um die Beantwortung folgender Fragen:

  1. Wie hoch sind die Kosten für die Ausstattung der Kindertagesstätten mit Tablets, wie hoch die Folgekosten?
  2. Welche pädadogischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen liegen der Stuttgarter Konzeption zugrunde?
  3. Welche externen Berater wurden bei der Erarbeitung zugezogen?
  4. Warum ist das „Konzept zur praktischen Medienarbeit“ auf digitale Medien beschränkt? Welche Konzepte bestehen für die analogen Medien, die für eine gesunde geistige und körperliche Entwicklung und die Herausbildung der zukünftigen Medienmündigkeit als Fundament entscheidend sind u.a. Sprechen / Kommunikation, Zeichnen / Schrift, Musik / Singen, Theater / Rollenspiele, Sport / Bewegung?
  5. Ist dem Jugendamt bekannt, dass auf Grundlage eines Gutachtens der Karolinska – Universität in Schweden die Digitalisierung bis zu den Vorschulen rückgängig gemacht wurde? Wie beurteilt das Jugendamt die Argumente des schwedischen Gutachtens und die Maßnahme der schwedischen Regierung?
  6. Ist dem Jugendamt bekannt, dass in der „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ (2023) der deutschen Fachverbände vom frühen Bildschirmgebrauch abgeraten wird auf Grund von negativen Folgen für alle Entwicklungsparameter der Kinder (u.a. Bewegung, Kognition, Sprechen). Welche Relevanz für die eigene Praxis sieht das Jugendamt in den Aussagen und Empfehlungen der Leitlinie?
  7. Ist dem Jugendamt bekannt, dass in den aktuellen Stellungnahmen des US Surgeon General und dem aktuellen UNESCO Bildungsbericht vor negativen Folgen der frühen Bildschirmnutzung gewarnt wird? Welche Relevanz für die eigene Praxis sieht das Jugendamt in deren Aussagen und Empfehlungen?
  8. Ist dem Jugendamt das Handbuch „Internet- und Computersucht. Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern“ von Möller / Fischer bekannt, in dem in allen Fachbeiträgen vor schädlichen Auswirkungen der frühen Nutzung digitaler Bildschirmmedien gewarnt wird?
  9. Wie beurteilt das Jugendamt die Empfehlung vieler Experten, z.B. der Medienpädagogen Prof. Bleckmann, Prof. Lankau, die Neurobiologen und Psychologen Prof. Korte, Prof. Spitzer, Prof. Teuchert-Noodt, vor dem 12.-14. Lebensjahr keine Bildschirmmedien in der Erziehung einzusetzen?
  10. Welche Maßnahmen werden ergriffen, um Defizite zu kompensieren, die durch familiäre dysfunktionale Smartphone- und Tablet-Nutzung entstehen, wie Bewegungsmangel, unterentwickelte Feinmotorik, Sprach-, Lese- und Kognitionsdefizite, Empathieverlust, Realitätsflucht, Handy- und Internetsucht und andere psycho-soziale Schädigungen, insbesondere durch unverarbeitetes Konsumieren von Porno- und Gewaltdarstellungen, Mobbing und andere traumatische Erlebnisse?
  11. Erfolgt eine Aufklärung der Eltern durch das Jugendamt über die Risiken für die gesunde Entwicklung der Kinder durch die Handy- und Tabletnutzung?
  12. Das Bündnis für humane Bildung hat Analysen zum Stuttgarter Digitalisierungskonzept vorgelegt mit der Hauptaussage, dass bei einer Umsetzung die Entwicklung der Kinder geschädigt wird, das Konzept deshalb zurückgezogen und Alternativen für eine Erziehung zur Medienmündigkeit entwickelt werden müssen. Wir bitten um eine detaillierte Positionierung zu den Einzeleinwänden und zu den drei Vorschlägen:
  13. Durchführung eines vergleichenden Forschungsprojektes in Stuttgarter Kitas, wie in der Stellungnahme von Prof. Paula Bleckmann vorgeschlagen.
  14. Durchführung eines Symposiums durch die Stadt Stuttgart (Jugendamt, Schulpsychologischer Dienst) zum Thema Kinder und digitale Medien, offen für die Beschäftigten der Stuttgarter Kindertagesstätten.
  15. Neuerarbeitung der Konzeption unc bis dahin ein Moratorium für den Einsatz digitaler Geräte.

Begründung:

Heute wachsen Kinder, Schülerinnen und Schüler in einer digitalisierten Umgebung auf, nutzen schon immer früher die Geräte. Sie brauchen Orientierung. In der Erziehungspraxis darf die digitale Entwicklung der Gesellschaft, die Konfrontation der Kleinkinder schon im Elternhaus mit Smartphones und Tablets und die Risiken, die dabei entstehen, nicht ignoriert werden. Dabei müssen Jugendschutz und Suchtprävention verwirklicht werden. Es ist dringend notwendig, die Problematiken und Alternativen zu diskutieren, bevor der Einsatz von digitalen Medien beschlossen wird. Deshalb muss auf allen Altersstufen eine Erziehung zur Medienmündigkeit stattfinden. Medienerziehung darf dabei nicht auf digitale Medien beschränkt werden.

Mit dem 2007 auf den Markt gekommenen Smartphone veränderten sich die Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen in allen Lebensbereichen. Die durchschnittliche Onlinezeit der unter 40-Jährigen ist nach der Postbankstudie (2022) 86,1 Stunden in der Woche, davon am Smartphone 31,8 Stunden. Nach der JIM-Studie 2022 liegt die durchschnittliche tägliche Online-Nutzung bei 12-19-jährigen bei 3 Std. 24 Min. In der Forschung gilt das bereits als dysfunktionale Nutzung.

Nun liegen erste fundierte Auswirkungen der frühen Nutzung mobiler Bildschirmgeräte auf die Entwicklung von Kindern vor. Auf Grund der Forschungsergebnisse publizierten 11 deutsche Fachverbände die „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ (2023). Die Folgen der dysregulierten Nutzung analysiert die Leitlinie umfassend; sie wertet die Begleitforschung aus und stellt fest, dass die Risiken und das Schädigungspotential enorm sind. Zwölf Hauptrisiken werden analysiert: Übergewicht / Schlafstörungen / Augenerkrankungen / Entwicklungsstörungen / Bindungsstörung / Verhaltensstörungen / Internetsucht / Mobbing und sexuelle Belästigung / Glücksspiel / Strahlung / Schwangerschaft / Besondere Bedürfnisse (Menschen mit Behinderung). In den Leitlinien steht:

„Es ist wichtig, dass Erwachsene sich bewusst sind, dass Kinder, unabhängig vom Lebensalter, keine kleinen Erwachsenen sind. Es muss berücksichtigt werden, dass in den ersten drei Lebensjahren wesentliche Prozesse der neuronalen Reifung und Strukturierung des kindlichen Gehirns stattfinden und in vielen Bereichen auch abgeschlossen werden, insbesondere in der sensomotorischen Entwicklung … Insbesondere Kinder sollen lernen und durch die Eltern erfahren, dass explizit die Zeit, die man nicht an Bildschirmmedien verbringt, im Leben zählt“ (LL, S.10). Nur so könne „analoge Zukunftskompetenz“ (LL, S.10) als gesellschaftliches Ziel erreicht werden.

Wird der altersspezifische Einsatz nicht berücksichtigt, kann das zu Schädigungen führen:

  • weil „Bildschirme wie Zeiträuber fungieren und ein Kind, das mehr Zeit am Bildschirm verbringt, weniger Zeit mit entwicklungsförderlichen Aktivitäten in der wirklichen Welt verbringen kann“ („time displacement hypothesis“ (Zeitverdrängungshypothese) (LL S.11).
  • „In der Kleinkindzeit geht übermäßige Nutzung von Bildschirmmedien, sowohl durch die Eltern als auch durch die Kinder selber, mit zahlreichen negativen gesundheitlichen Auswirkungen einher (z.B. Regulations- und Bindungsstörungen, Entwicklungsstörungen, insbesondere der Sprache und Kognition)…“ ( LL S.11).

Deshalb durchzieht die Leitlinie die Empfehlung der „Reduktion der Exposition von Bildschirmmedien in den ersten Lebensjahren“ (LL S.12), denn: „Die Reduktion der Exposition von Bildschirmmedien in den ersten Lebensjahren geht hingegen mit positiven Effekten in zahlreichen Entwicklungsdomänen einher (u.a. exekutive Funktionen, Feinmotorik, Aufmerksamkeit, prosoziales Verhalten)“ (LL S.12).

Länder, die schon früh mit der Digitalisierung der Bildung und Erziehung in den Vorschulen begonnen haben, korrigieren dies jetzt. Auf Grund eines Gutachtens der Karolinska-Universität (2022) machte Schweden die Digitalisierung der Vorschulen rückgängig, die schwedische Erziehungsministerin begründete dies:

„Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen. Wir wissen, dass menschliche Interaktion für das Lernen in den ersten Lebensjahren entscheidend ist. Bildschirme haben in Vorschulen einfach nichts zu suchen“ (Lotta Edholm, Schwedische Erziehungsministerin).

Auch Finnland, Frankreich und die Niederlande fassten ähnliche Beschlüsse. Weitere Untersuchungen wie der UNESCO – Bildungsbericht „2023 Global Education Monitor“ und des US Surgeon General stellen den Nutzen der Digitalisierung in Frage. Das deutsche Bündnis für humane Bildung fordert einen generellen Verzicht auf Bildschirmmedien bis zum 14. Lebensjahr und fordert eine Erziehung zur Medienmündigkeit.

Die Bildungsstudien zu Viertklässlern, die 2022 publiziert wurden (IQB-Bildungsstudie, IFS-Lesestudie u.a.) bestätigen, dass Lernleistungen massiv einbrechen. Die dafür auch mit verantwortlichen dysfunktionalen Nutzungszeiten von digitalen Medien werden durch den geplanten Einsatz in Kitas, wie im Stuttgarter Konzept vorgesehen, ausgedehnt statt begrenzt. Das aktualisierte Standardwerk „Internet- und Computersucht. Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern von Möller, C., Fischer, F. (2023) (3. Auflage, Kohlhammer Stuttgart) behandelt nahezu allen Risiken und stellt Alternativen dar. Auch in ihm wird vor der frühen Nutzung abgeraten.

Stuttgart_Medienkonzept_Kitas_2022