Rede von Christoph Ozasek (DIE LINKE), Fraktionsgemeinschaft SÖS LINKE PluS bei der Generaldebatte zum Klimawandel im Gemeinderat am 11.04.19
Herr Oberbürgermeister,
2018 erlebte Europa einen der heißesten Sommer seit Beginn der Temperaturaufzeichnung. Dürre ließ im griechischen Attika, in Portugal und Brandenburg ganze Regionen in Flammen aufgehen. In der Nacht vom 15. März diesen Jahres zerstörte der Zyklon IDAI die Großstadt Beira in Mosambik. Sie ist die erste Stadt in der Geschichte, die vom Klimawandel ausgelöscht wurde.
Einem UN-Bericht zufolge werden 2030 bereits 660 Millionen Menschen von den Folgen des Klimawandels betroffen sein, etwa, weil sie unter Wasserknappheit, Hunger oder Krankheiten leiden. Die Kosten werden auf 200 Milliarden Euro pro Jahr kalkuliert.
Die Welternährungsorganisation FAO bilanzierte vor wenigen Tagen zum zweiten Mal in diesem Jahrzehnt: Die weltweite Jahres-Getreideernte reicht nicht aus, um den Bedarf der Menschheit zu decken, bedingt durch die Dürre in Europa.
Hungerkatastrophen, Artensterben, ein Anstieg der Meeresspiegel mit Fluchtbewegungen in heute unvorstellbarem Ausmaß, Kriege um fruchtbaren Boden und Frischwasservorkommen sind die Folge.
Werte Kolleginnen und Kollegen,
diese Generation ist die erste, die vom menschgemachten Klimawandel betroffen ist, und die letzte, die in der Lage ist, die globale Klimakatastrophe abzuwenden. Der Klimawandel ist kein abstraktes Phänomen, sondern eine reale und existenzielle Gefahr.
„Wenn ich mir vorstelle, dass 95 Prozent aller Kinder, die noch nicht geboren sind, in eine Welt entlassen werden, wo sie Elend, Krieg, Zerstörung ausgesetzt sind – das bricht mir das Herz“,
diese eindringlichen Worte sprach der führende deutsche Klimawissenschaftler Prof. Schellnhuber, Impulsgeber der globalen Klimaschutzagenda. Das Zeitfenster, um das Steuer herumzureißen, schließt sich in wenigen Jahren.
Für uns von SÖS-LINKE-PluS ist Klimaschutz ein sozialer und ökologischer Gesellschaftsvertrag. Die heutige, auf Wachstum ausgerichtete Produktions- und Lebensweise, die jedwede planetare Grenzen missachtet, steht auf dem Prüfstand.
Charles Darwin, Vater der Evolutionstheorie, sagte einst: „Nichts kann auf Dauer gegen die Natur bestehen.“
Entweder, die politischen Entscheider korrigieren das System dergestalt, dass wir Menschen künftig im Einklang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen existieren, oder die Natur wird die Gattung homo sapiens überwinden. Der Klimawandel ist also ein großangelegter Intelligenztest. Allerdings einer ohne Joker, und ohne Chance auf Wiederholung.
Auf Initiative unserer Fraktionsgemeinschaft widmet sich der Rat heute der Frage, welchen Beitrag Stuttgart zum globalen Klimaschutz leisten muss.
Liebe Aktive von „Fridays for Future“, ihr formuliert eine völlig richtige Forderung: Um das völkerrechtlich verbindliche 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, und damit zu verhindern, dass Kippelemente im Klimasystem den Übergang in einen unkontrollierten Klimawandel einleiten, muss bis 2035 der Transformationsprozess zur Klimaneutralität abgeschlossen sein.
Das sehen wir von SÖS-LINKE-PluS schon lange so. Doch der Gemeinderat und der grüne Oberbürgermeister wollen sich Zeit lassen bis über das Jahr 2050 hinaus (Zielbeschluss: -95 % CO2 bis 2050). Sie steuern im Windschatten der untätigen Bundesregierung kalkuliert in die Klimakrise.
Und während in Sonntagsreden viel von Klimagerechtigkeit die Rede ist, zeigen die realen Zahlen: Stuttgart ist Entwicklungsland in Sachen Klimaschutz.
Wissen Sie, wieviel Geld für Maßnahmen im Masterplan „100 % Klimaschutz“ im laufenden Haushalt eingestellt sind? Es sind Null Euro.
Sie, Herr Oberbürgermeister, haben unsere Forderung für diesen Prozess die notwendigen Mittel in den Haushalt einzustellen, abgelehnt. Dabei müssen wir dringend aufholen!
Die Totalprivatisierung der Energie- und Wasserversorgung im Jahr 2002, vollzogen durch alle hier im Saal vertretenen Fraktionen, bis auf SÖS-LINKE-PluS, hat Stuttgart 15 Jahre zurückgeworfen und das fossile Energiesystem der Stadt faktisch eingefroren.
Stuttgart ist strukturell abhängig von Blutkohle aus Kolumbien, fossilem Erdgas aus der lupenreinen Demokratie Russland, Atomstrom aus Neckarwestheim, der giftigen Müllverbrennung und Öl aus Folterstaaten.
Das Ziel der Urbanisierung der Energiewende kommt seit ihrem Amtsantritt, Herr Oberbürgermeister, keinen Schritt voran. Unsere neu gegründeten Stadtwerke arbeiten weder sozial, noch haben sie eine glaubhaft ökologische Geschäftsstrategie.
Die Energienetze stehen noch immer unter dem schlechten Einfluss der EnBW, und sind nicht gerüstet für die Energiewende. Stuttgart nutzt ausweislich der Zahlen des Umweltamts gegenwärtig nur 1 % seiner Solarpotenziale, und 1 % seiner Erdwärmepotenziale. Nur 1 % der hier in Stuttgart benötigten Energie wird aus regenerativen Quellen im Stadtgebiet erzeugt.
Handeln ist also gefragt, nicht nachdenkliche Sonntagsreden:
SÖS-LINKE-PluS will Stuttgart mit einer Solarsatzung zur Sonnenstadt machen, eine Erd- und Umweltwärmeagenda initiieren, in den Stadtquartieren. Wir wollen jedes Jahr 100 städtische Dächer mit Solaranlagen ausstatten, und nicht 100 Dächer nach 18 Jahren Erneuerbares Energien Gesetz. Wir wollen die Müllverbrennung beenden, und die Kohle aus dem Wärmenetz verbannen.
Der Einsatz fossiler Energieanlagen muss sofort untersagt werden, und das Bauen künftig klimaneutral erfolgen. Oberstes Ziel städtischen Handelns muss eine ressourcenleichte Stadt sein, die sich aus nachhaltigen Stoffkreisläufen versorgt, und nicht länger Raubbau an endlichen Ressourcen betreibt, zu Lasten kommender Generationen.
Wir fordern eine neue Mobilitätskultur, die unsere Stadt entgiftet, Lärm vermeidet, menschenfreundlich und effizient ist. Der Bau neuer Straßen muss untersagt werden, Quartiere autofrei konzipiert, und der öffentliche Raum hin zu ressourcenleichter und effizienter Mobilität umverteilt werden.
Stuttgart soll nicht länger eine asphaltgraue Autostadt, sondern eine Fahrradstadt sein. Eine Stadt, geplant aus Fußgängerperspektive, eine Stadt der umweltschonenden Mobilität, mit einem leistungsfähigen ÖPNV.
Die Politik muss endlich die gigantischen Subventionen für die Auto- und Flugindustrie beenden und diese Milliardensummen in den Umweltverbund investieren, nur dann kann in 16 Jahren ein klimaneutrales Verkehrssystem entstehen.
Dazu gehört wohlgemerkt auch ein leistungsfähiger Bahnknoten. Mit Stuttgart 21 wird nicht nur ein Nadelöhr für den Bahnverkehr geschaffen. Mit dem Bau des Tunnelsystems werden 1,7 Mio Tonnen Treibhausgase freigesetzt.
Es entsteht außerdem eine kritische Infrastruktur, die, im Falle urbaner Sturzfluten, mit denen künftig regelmäßig zu rechnen ist, durch ihre unterirdische Troglage zu überfluten droht. Wer wirklich für eine ökologische Verkehrswende und Klimaschutz steht, muss dieses Projekt ablehnen und jetzt für den Umstieg eintreten.
Wir von SÖS-LINKE-PluS fordern eine Klimaschutzprämisse: Jeder Beschluss des Rates soll künftig daraufhin überprüft werden, ob er mit dem Ziel der Klimaneutralität und dem Ziel, die Stadt gegenüber den Klimaveränderungen widerstandsfähig zu machen, kompatibel ist. Denn der Klimawandel wird in Stuttgart ab Mitte diesen Jahrhunderts ein Lokalklima hervorbringen, das mit immensen Hitzebelastungen für Mensch, Tier und Infrastruktur verbunden ist.
Daraufhin gilt es, die Stadt zu rüsten: Mit einer intelligenten Dichtestrategie, die das Klimasystem der Stadt optimiert und nicht weiter schädigt, wie z.B. durch die Bebauung des Gleisvorfelds. Mit der Öffnung der Bachläufe, urbanen Wasserspeichern und offenen Wasserflächen wollen wir der Überhitzung Stuttgarts entgegenwirken. Mit deutlich mehr gesundem Stadtgrün, an Dächern, Fassaden und im öffentlichen Raum.
Wir von SÖS-LINKE-PluS fordern Grenzen des Wachstums: Die wertvollen Böden müssen vor Bebauung geschützt bleiben, und der Bevölkerungszuwachs von der Naturzerstörung entkoppelt werden. Die Boden- und Waldstrategie muss darauf ausgerichtet werden, Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu binden, und nicht länger auf kurzfristigen Ertrag und Substanzverlust. Damit unsere Böden an Fruchtbarkeit gewinnen, wollen wir die ökologische Bewirtschaftung deutlich ausweiten.
Strukturpolitisch ist die Transformation unserer Wirtschaft zwingend. 250 Jahre nach Patentierung der Dampfmaschine durch James Watt ist es an der Zeit eine neue industrielle Revolution zu initiieren: Nicht länger sollen umweltzerstörerische Industrieprodukte von den Fließbändern rollen, sondern Produkte, die kompatibel sind mit einer nachhaltigen Lebensweise.
Wir müssen von einer Wegwerf-Gesellschaft zu einer Recycling-Stadt werden. Eine Ökonomie, die technische Stoffkreisläufe organisiert wie es ein Wald im biologischen Sinne tut. Er lässt unerschöpflich Wertstoffe zirkulieren ohne dabei Schadstoffe zu produzieren.
Das Automobil, egal mit welcher Antriebstechnik, ist wohlgemerkt keine Zukunftstechnologie. Wer die Autostadt verteidigt, kann nicht glaubwürdig für den Klimaschutz eintreten. Wer heute diese fossilen Technologien aus vermeintlich sozialen Motiven heraus verteidigt, dem seien die Worte der Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes, Sharon Burrows, ans Herz gelegt: „There are no jobs on a dead planet“.
Doch Herr Oberbürgermeister, Stuttgart steht schlecht da.
Wir erwarten, dass Ihr nächster Haushaltsentwurf endlich den Erfordernissen des Klimaschutzes Rechnung trägt. Angesichts des gesicherten Wissens um die drohende Zukunft muss jetzt der Klimanotstand ausgerufen werden. Kollege Stefan Urbat wird den vorliegenden Antrag von SÖS-LINKE-PluS anschließend einbringen.
An euch, liebe Aktive von „Fridays for Future“ appelliere ich: Haltet den Druck aufrecht. Es ist eure Zukunft. Kämpft um sie.