Liebe Bahnfreunde, denn, ich weiß es, das seid Ihr – Ihr seid es, nicht die anderen!
Oettinger, Mappus, Mehdorn, Grube – das sind alles so wichtige wie traurige
Figuren in Sachen S21. Sie wollten mit aller Macht diesen Bahnhof, sie verloren
ihre Macht auch wegen dieses Bahnhofs, und sie sind nun erledigte Gestalten,
traurige Gestalten. Okay, Oettinger wirkt irgendwie noch als irgendwas in
Brüssel, versucht dort Englisch zu lernen, und Grube macht jetzt offiziell das,
was er auch als Bahnchef tat: Er ist dem Tunnelbohrer Herrenknecht zu Diensten.
Aber noch traurigere Gestalten als diese S-21-Täter sind andere: Kretschmann,
Hermann, Kuhn. Das grüne Trio fatale.
Kretschmann, Hermann, Kuhn: Sie kamen an die Macht, weil sie – mehr oder
weniger – gegen diesen Bahnhof waren. Aber kaum waren sie an der Macht,
vergaßen sie, dass sie dort hinkamen, wo sie noch immer sind, wegen der
Menschen, die aus gutem Grund diesen Bahnhof nicht wollten und nicht wollen.
Um an die Macht zu kommen, tat diese Dreier-Bande ziemlich viel: Kretschmann
nannte die Finanzierung des Bahnhofs „einen Verfassungsbruch“. Wenn er mal
Ministerpräsident sei, so versprach er im Wahlkampf 2011, werde dieser
Verfassungsbruch mit ihm nicht weitergehen. Er ging aber weiter, der
Verfassungsbruch. Kretschmann, der Ministerpräsident, ist also in seinen
eigenen Augen: ein Verfassungsbrecher. Erstaunlich, dass er damit leben kann.
Aber erstaunlich ist es dann doch nicht.
Kretschmann ist ein ganz Besonderer. Er ist ja – was ich, ich geb’s zu,
überhaupt nicht verstehe – hier in Baden-Württemberg Kult.
In der Tat, der Kerl ist einzigartig – und zwar weltweit: In seiner Jugend war
er in seiner oberschwäbischen Heimat stolzer Träger des Froschkuddelordens. Er
war Schützenkönig und frommer Katholik, Oberministrant, er war aber auch ein
harter Maoist. Er war im Kommunistischen Bund (KBW), Mitglied der katholischen
Kirche – das alles gleichzeitig, das muss man mal hinkriegen! Er ist geschult
in maoistisch-leninistischer Taktik, erzogen im katholischen Internat zu jesuitischer
Schläue – vielleicht schafft er es deswegen so gut, mit dem Verrat, den er in
Sachen S21 begangen hat, zu leben.
Ja, Verrat. Der Staatsrechtler Hans Meyer, ein in Juristenkreisen überaus
angesehener Staatsrechtler, spricht von „schwäbischen Schweinereien“ und einem
Verhalten des Landes Baden-Württemberg in Sachen S21 – „im Stile der
Mafia-Filme“. Die Finanzierung von S21, so der Jurist, „verstößt gegen ein
verfassungsrechtliches Verbot“. Und: „Die Rechtsordnung schreibt in einem
solchen Fall die Nichtigkeit des Vertrags vor.“
Winfried Kretschmann hat einen Eid abgelegt. Er hat geschworen, „Verfassung
und Recht zu wahren und zu verteidigen“. Und vor allem „Schaden“ abzuwenden von
seinen Bürgern. Wäre es daher nicht schon längst seine Pflicht gewesen, die
Rechtmäßigkeit der fragwürdigen Verträge überprüfen zu lassen? Das hat der
Ministerpräsident nicht getan. Er hat einfach geschwiegen.
Überhaupt: Seltsam wenig Worte kommen aus seinem Mund, egal was die Bahn
während seiner Amtszeit bei S21 anstellt.
Da explodieren die Kosten: Kretschmann schweigt. Da wird bekannt, dass anders als versprochen, S21 ein struktureller Rückbau der Bahnhofsleistung ist: Kretschmann schweigt. Da wird bekannt, dass der Brandschutz voller Mängel ist: Kretschmann schweigt. Da wird bekannt, dass die extreme Bahnsteigneigung gegen alle Normen verstößt, also ein immenses Sicherheitsrisiko ist, Kretschmann schweigt. Da wird bekannt, dass sich die Inbetriebnahme von 2019 erst auf 2020, dann auf 2024, dann auf 2025, wohl auf 2026 verschiebt: Kretschmann schweigt. Da wird bekannt, dass die Volksabstimmung, bei der die Baden-Württemberger sich für S21 aussprachen, mit völlig falschen Voraussetzungen, falschen Versprechungen und falschen Zahlen ablief, dass sie: eine Farce war. Da, endlich, sagt Kretschmann etwas: Er fühle sich trotz allem an diese Volksabstimmung gebunden. Und er sagt auch dies: Er lehne eine Diskussion über einen Baustopp ab. „Wir eröffnen keine Ausstiegsdebatte“. Im Klartext heißt das: Jungs, bohrt weiter! Ministerpräsident Kretschmann – der beste Mann des Tunnelbauers Herrenknecht.
Dass der grüne Ministerpräsident den sogenannten Volksentscheid über S21 für
alle Zeiten als bindend erklärt – eine Frechheit. Der Volksentscheid war und
ist ein Betrug am Wähler.
Warum sage ich: Betrug? Auch wenn diese Abstimmung vom 27. November 2011 im
kollektiven Gedächtnis der Bundesbürger als eine Abstimmung über S21
abgespeichert ist, es war keine Abstimmung über das Projekt an sich, die Frage
an die Baden-Württemberger war damals nicht: „Sind Sie für oder gegen S21?“ Es
war eine Abstimmung über den „Finanzierungsrahmen“ des Projekts –also die
versprochene und bindende Kostenobergrenze von 4, 5 Milliarden Euro. Die Bürger
trauten den Angaben, dass alles gut wird. Und sagten: Ja – wenn es nicht teurer
wird als versprochen.
Auch wenn es Ministerpräsident Kretschmann nicht gerne hört, daran gar nicht erinnert werden möchte: Bei S21 gibt es ein „außerordentliches Kündigungsrecht“, wenn die Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro durchbrochen ist. Und diese Grenze, eine weitere Frechheit, wurde schon ein paar Wochen nach dieser Volksabstimmung durchbrochen, um weit über eine Milliarde Euro.
Warum nahm Kretschmann, wie es seine selbstverständliche Aufgabe als
fürsorgender Ministerpräsident gewesen wäre und immer noch ist, seine Pflichten
nicht wahr und hat Gebrauch gemacht von diesem „außerordentlichen
Kündigungsrecht“?
Er hätte so zwei Milliarden Euro Steuergelder seiner Bürgern gespart. Er hätte
so – auf übrigens überaus staatstreue Art und Weise! – ihnen dieses
geldverschlingende, den Bahnverkehr störende, dieses lebensgefährliche – dazu
komme ich noch! – Projekt erspart.
Kretschmann, wenn er, nochmals, ein wirklich fürsorgender Ministerpräsident wäre, könnte dieses unnötig verschenkte Geld immer noch zurückverlangen – und so die Bahn in echte Bredouille bei ihrem S21-Bau bringen – denn das Geld gab es nur aufgrund des großen Versprechens: S21 bringt eine gewaltige Kapazitätserweiterung von 50, ja, 100 Prozent! Aber S21, das ist seit langem bekannt, ist ein dramatischer, ein nach EU-Recht illegaler Abbau der Verkehrsleistung!
Und wenn er dies täte – also: von seinem „außerordentlichen Kündigungsrecht“
Gebrauch machen würde, Ironie der irren Geschichte um S21 – die Bahn-Manager
wären vermutlich mehr als sehr froh. Denn sie haben ein echtes Problem, mit dem
sie nicht gerechnet hatten, dem Brandschutz: Dieser unlösbare Brandschutz. Die
auch deswegen immer weiter explodierenden Kosten gefährden nun tatsächlich die
Existenz des Bahn-Konzerns.
Kretschmann – er könnte den gordischen Knoten zerschlagen. Aber dieser
Ministerpräsident: Er schweigt.
Dann explodieren 2018 die Kosten des Projekts um weitere Milliarden, also nun endgültig ins Astronomische, auf 8,2 Milliarden Euro, und schließlich sagt Kretschmann etwas, ganz vorsichtig, ganz verhalten, sagt er dies: Die Kritiker hätten ja mit allem Recht gehabt – und: jaaa? Was für Schlüsse zieht der Herr Ministerpräsident aus dieser Erkenntnis? Diese: Da sei ja dieser Volksentscheid, so eine Abstimmung sei „schwer revidierbar“, er jedenfalls fühle sich seit diesem Volksentscheid verpflichtet, S21 „positiv zu begleiten“. Im Klartext heißt das: Jungs, bitte, buddelt weiter, bitte, Augen zu und durch, koste es, was es wolle. Ministerpräsident Winfried Kretschmann – politisch-moralisch: ein erledigter Fall!
Und der Verkehrsminister dieses Landes? Hermann? Winne! Der Radfahrer. Er
fährt Fahrrad. Das ist gut. Er fährt Fahrrad mit Sturzhelm. Das sieht putzig
aus. Aber die Sicherheit…
Die Sicherheit? Wenn diesem Radfahrer die Sicherheit aller am Herzen läge,
würde er sofort zwei Dinge tun: aus der Regierung austreten, die nichts gegen
das größte Sicherheitsrisiko im Land tut: gegen S21.
Die Stichworte sind: keine Betriebssicherheit im ultragefährlichen Schiefbahnhof,
nicht zu leistender Brandschutz im Tiefbahnhof, nie funktionierender
Brandschutz im aberwitzigen, im irre-langen Tunnelwirrwarr unter Stuttgart.
Er muss wissen, und er weiß es, dass Zug- oder Lokbrände erschreckend häufig
passieren – etwa neulich, im November, in Montabaur. Die vielbefahrene A 3
musste wegen des Rauchs komplett gesperrt werden. Dieser eigentlich unbrennbare
Zug hat einen Tag lang gebrannt – im Freien!
Wenn so ein Zug in den zu engen Tunneln unter Stuttgart brennt, dann dauert die
Löschung fünf Tage, sagte mir neulich der Stuttgarter Brandschutzexperte
Joachim Keim. Außerdem: ratzfatz entsteht dabei ein absolut tödlicher Cocktail,
ein Gemisch aus Senfgas, Phosgen, Blausäure. Reisende, die plötzlich zu panisch
Fliehenden werden, sind ohne Überlebenschancen.
Was da gebaut werden soll, das muss Hermann wissen, das ist, um nochmals den
Brandschutzexperten zu zitieren, „ein Staatsverbrechen“. Es ist eine
Katastrophe mit Ansage, was da unter Stuttgart mit dem Einsatz von vielen
Milliarden Euro gebaut wird, im Fall eines Unfalls haben Sie die Wahl: Will ich
ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?
Die obersten Maximen unseres Staates, grundgesetzlich garantiert, sind: Schutz
von Gesundheit und Leben. Dagegen wird aber bei S21 prinzipiell verstoßen! Denn
hier entsteht im Untergrund ein Hochrisikobahnhof, hier entstehen in großer
Tiefe kilometerlange Höchstrisikotunnel.
Das Ärgerliche: Vieles kann hier nur gebaut werden, dank merkwürdiger
Ausnahmegenehmigungen, aber jede Ausnahmegenehmigung heißt: Risiko. Heißt:
tödliche Gefahr.
Ich übertreibe nicht, ein paar Beispiele: große Teile der Tunnel sind doppelt
so steil wie normal erlaubt, die Tunnelquerschnitte sind extrem eng, die
Rettungswege sind in ihrer Breite am untersten Minimum des gesetzlich
Erlaubten, und an manchen Stellen wird dieses risikoreiche Sicherheitsminimum
durch klobige Einbauten noch unterschritten, Rettungsstollen gibt es –
ebenfalls an der Grenze des gerade noch Erlaubten – nur alle 500 Meter. In ganz
Europa werden keine Tunnel gebaut, bei denen man so kalt, so leichtsinnig, so
unverantwortlich mit dem Leben der Reisenden spielt – aber es ist kein Spiel.
Auch in der Bahnhofstiefhalle wird sträflich gestümpert. Auch dort hat im
Brandfall kaum einer die Chance, ein Unglück zu überleben. Im Rauch werden Sie
schneller ersticken, als die Luft der Belüftungsmaschinen Ihnen helfen kann.
Sie werden keine Chance haben, die Rettungstreppen zu erreichen – und wenn Sie
die doch erreichen sollten, haben Sie großes Pech. Diese Rettungstreppen sind
Todesfallen: zu eng, zu steil, zu lang. S21, so muss man es sagen, ja, man kann
es gar nicht anders sagen, hat das Potenzial, ein riesiges Krematorium zu
werden.
Falls S21 wider jede Vernunft doch realisiert werden sollte: Ich werde dann nie
mehr mit dem Zug nach Stuttgart fahren.
Wenn man weiß, und der Verkehrsminister, Winne Hermann, muss genau wissen, was da konkret geplant ist, wie und was da menschenverachtend mit dem Geld seiner Wähler und Wählerinnen gebaut wird, wenn er um diese Gefahren weiß, und er weiß darum – und nichts dagegen unternimmt, was ist er dann, dieser Verkehrsminister, dieser Radfahrer mit Sturzhelm: ein Zyniker? Wenn er an diesem Projekt festhält – was ist er dann? Ein moralisch erledigter Fall!
Das zweite Ding, wenn diesem Verkehrsminister die Sicherheit, nicht nur
seine, sondern die der Bürger des Landes ein Herzensanliegen wäre: Er würde
sich mit aller Macht gegen S21 wehren, also zum Beispiel hier auf dem Podium
bei uns, bei Ihnen und Euch stehen.
Ah, neulich hat er doch in der „Kontext“ wahrhaft dramatische Worte zu S21
gefunden: „Eine grandiose Fehlentscheidung“ sei dieser Bau. Da hat er aber mal
Recht, der Verkehrsminister, nur: Er gibt sich keine Mühe, diese grandiose
Fehlentscheidung zu korrigieren.
Hermann: Auch er kam an die Macht wegen S21. Mehr noch: Er kam auch an die
Macht, das ist fast vergessen, weil er sich gegen diese genauso unsinnige
Neubaustrecke nach Ulm eingesetzt hat, das ist lange her: „Ein aberwitzige
Trasse“ sei das, sagte der Verkehrsminister, als er noch kein Verkehrsminister
war, sondern ein klar denkender Mitbürger: „Ein Schwabenstreich, für den ich
mich als Schwabe schäme“.
Aber der Radfahrer redet viel, er sagte ja auch mal: „S21 – die größte
Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte.“ Eigentlich müsste dieser Mann irre
an sich werden, wenn er über sein faktisches Handeln als Minister nachdenkt.
Ich weiß nicht, was er sieht, was er fühlt, was er empfindet, wenn er abends in
den Spiegel guckt. Vielleicht übt er ja schon daran, wie er die
Einweihungsfeier von S21 genießt, ohne rot zu werden.
Hermann – auch er: ein sehr guter Mann für die Bahn bei diesem Horrorprojekt.
Winne – auch er, wie gesagt, ein politisch-moralisch erledigter Fall.
Ein grüner Ministerpräsident, ein grüner Verkehrsminister, ein grüner Oberbürgermeister: Fritz Kuhn, dem auch nichts anderes einfällt, als alles brav durchzuwinken. Kretschmann, Hermann, Kuhn – früher mal Hoffnungsträger, jetzt: S21-Täter. Machterhaltungspolitiker sind sie geworden, die heute etwas durchsetzen, von dem sie seit Jahrzehnten genau wissen, dass es grottenfalsch ist – aber sie tun es dennoch. Das ist unverzeihlich.
„Denken heißt Überschreiten“, notierte einst der Philosoph Ernst Bloch in seinem Hauptwerk: „Das Prinzip Hoffnung“.
Also, hoffen wir gegen besseres Wissen und rufen mit dem Degerlocher
Mundartdichter Gerhard Raff: „Herr, schmeiß Hirn ra!“ – und zwar auf diese drei
Politiker, auf dass sie denken und klug werden und so endlich lernen, die
Grenzen ihrer Beschränktheit zu überschreiten!
Und endlich sagen: Stopp Stuttgart 21!
Arno Luik hat als Autor des stern zahlreiche bahninterne Dokumente an die Öffentlichkeit gebracht, etwa das Azer-Papier „121 Risiken“
Video: Michael Köstler