Fassadismus statt Denkmalschutz – Hotel und Shopping Mall im Bonatzbau (von Joe Bauer)

Im denkmalgeschützten Bonatzbau sollen Hotel und Shopping Mall Einzug halten. Aus diesem aktuellem Anlass, geben wir hier einen Auszug aus einer Rede von Joe Bauer (Kolumnist) gekürzt wieder. Er hielt sie vor mehr als sechs Jahren bei einer Montagsdemo gegen Stuttgart 21.

„(…) Man kann mit der Eisenbahn, wenn sie gerade mal fährt, auch eine nützliche Reise machen, zum Beispiel nach Frankfurt am Main, um dort die Paul-Bonatz-Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum zu besuchen. Das habe ich gemacht, und weil ich mir nicht anmaße, meine Sicht der Dinge als Maßstab zu nehmen, zitiere ich an dieser Stelle Dieter Bartetzko von der FAZ. Er schreibt über Paul Bonatz und den Stuttgarter Hauptbahnhof:

‚Zu erkennen, dass die Bauherren von Stuttgart 21 mit diesem einzigartigen Denkmal so ignorant und stumpfsinnig umgehen wie 1928 die fanatischen Funktionalisten, die den Bau als reaktionären Giganten diffamierten, bleibt dem Besucher überlassen – denn nur mit extrem großen Scheuklappen könnte man im Deutschen Architekturmuseum die Verstümmelung des Stuttgarter Hautbahnhofs als Lappalie abtun.‘

Was mir aufgefallen ist: Sobald man Begriffe wie Historie, Denkmalpflege oder Kulturgeschichte auch nur ausspricht oder hinschreibt, kommen die S-21-Befürworter ums Eck und verbreiten die Floskeln, man romantisiere, verkläre, trage die rosarote Brille. Das ist ihre Rechtfertigung für ihre Geschichtslosigkeit.

Seltsamerweise erinnern sich die gleichen Leute immer dann an Geschichte, wenn sie sich und uns den Bonatz-Bau als Nazi-Monument zurechtlügen. Nazi geht immer, wenn es um die Diffamierung von Gegnern geht, das kennen diese Leute aus dem Fernsehen. Selbstverständlich werden sie den Unsinn vom faschistisch geprägten Baumeister auch wieder verbreiten, wenn sie den Südflügel zertrümmern, dieses Dokument einer Architekturgeschichte, die zurückreicht bis zu den Ägyptern. Sie erkennen nicht, was da vor ihnen steht, sondern beurteilen dieses Denkmal mit seiner einzigartigen Dynamik nach ihrem Privatgeschmack.

Die Methode Stuttgart 21 strahlt längst aus. Bald werden wir erkennen, was an der Paulinenbrücke passiert, in diesem inzwischen zum Geisterviertel mutierten Quartier. Man nennt es jetzt Quartier S, und dieser Name ist –  wie auch die Bezeichnungen Mailänder Platz, Pariser Platz, Da Vinci oder ähnliche Großkotzigkeiten –  ein Beispiel dafür, wie man einem Ort die Identität raubt und die Menschen aus der Stadt hinausbaut. Man wird die eine oder andere alte Fassade stehen lassen, so wie hier am Bahnhof, und das ist bezeichnend. (Nachtrag: Interessant, dass man Quartier S später in Das Gerber und Da Vinci in Dorotheenquartier umbenannt hat, um Identität vorzutäuschen.)

Meine Damen und Herren, Sie kennen alle den Schriftzug mit dem Hegel-Zitat hier an der Frontseite des Hauptbahnhofs, eine Arbeit und ein Geschenk des amerikanischen Concept-Künstlers Joseph Kosuth. Kosuth hat im Zusammenhang mit Stuttgart 21 gesagt:

‚Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so lässt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland.‘

Der Künstler Kosuth sagt uns: Es geht gewissen Stadtplanern, Politikern nicht darum, Altes und Neues zu verbinden, wie es große Architekten andernorts vormachen. Es geht ihnen nicht darum, Entwicklungen zu erkennen und daraus zu lernen. Deshalb reagieren sie so allergisch, wenn sie das Wort Geschichte hören und ihren Spott ablassen, sobald man sie an die Errungenschaften der Vergangenheit erinnert.

Albert Einstein hat gesagt: ‚Fortschritt ist der Austausch von Wissen.‘ Bei uns bedeutet Fortschritt Ignoranz von Geschichte und Wissen.

Euro-Disneyland, das ist die Zukunft, meine Damen und Herren, darauf laufen Projekte wie S 21 hinaus. Euro-Disneyland bedeutet Dagobertismus, auch Casino-Kapitalismus genannt. Euro-Disneyland ist das, was sie meinten, als sie in ihrem Größenwahn vom ‚neuen Herz Europas‘ faselten. So wird Stuttgart ein Allerweltsgebilde aus Shopping Malls, Apartment- und Bürokomplexen. Sie produzieren keine ‚urbane Marke‘, keine ‚Alleinstellungsmerkmale‘ – um in ihrem läppischen Sprachgebrauch zu bleiben – sie fabrizieren Wortmüll und läppische Logos.

Mit einer gewissen Art Städtebau, mit jenem Fassadismus, den Joseph Kosuth beschreibt, wird man viele Menschen aus ihrer Stadt vertreiben. Denn die Stadtentwicklung schafft die Voraussetzungen dafür, wer sich was in Zukunft noch leisten und wo er wohnen und leben kann.

Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen: Stuttgart, diese einzigartige, liebenswerte Stadt im Kessel unter den Hügeln – oder das Quartier XY, diesen betonierten Euro- und Globalpudding (…)“

 

Mit freundlicher Genehmigung von Joe Bauer aus „Bauers Depeschen“ (www.flaneursalon.de)