Hochwasserrisiken durch den Bau des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs?

Stuttgart ist die deutsche Großstadt mit dem höchsten Starkregen-Risiko. Die jüngsten Überschwemmungen nach Unwettern in der Region erinnern an die Notwendigkeit eines tragfähigen Konzeptes für die Entwässerung der Stadt bei Hochwasser. Stuttgart weist aufgrund der fragwürdigen Anlage schon heute ein erhebliches Risiko für die Überschwemmung der Klett-Passage und der darunterliegenden Anlagen der Stadtbahn auf (Stuttgarter Zeitung vom 25.06.2016). Der jüngste Antrag der Fraktion die Grünen Nr. 201/2016 fordert eine Darstellung des Alarm- und Einsatzplans bei örtlichem Hochwasser und Starkregen sowie einen Sachstandsbericht zu den Berechnungen des Kanalnetzes. Hierbei ist aber die Veränderung der Situation durch Stuttgart 21 nicht angesprochen. Dazu die vorliegende Anfrage.

Zuletzt berichtete Kontext am 08.06.2016 unter dem Titel „Wasser im Kessel“ über die gravierende Verengung des Hochwasser-Überlaufs im Mittleren Schlossgarten durch den Tiefbahnhof und den Verdacht, dass dies die Gefahr für die Überschwemmung der Klett-Passage und damit der weiteren unterirdischen Verkehrsanlagen am Bahnhof deutlich erhöht. Am selben Tag ging abends ein Starkregen nieder, der die Kanalisation an diesem neuralgischen Punkt der Stadt überforderte und Straßen und Unterführungen überflutete. Stuttgart erscheint tatsächlich als ein „einzigartiger Fall eines hochpotenzierten Risikos für Starkregen-Hochwasser“, wie ausführlicher unter http://wikireal.org/wiki/Stuttgart_21/Wasser#Hochwasser dargelegt wird. Nach den dort aufgeführten Quellen war der Nesenbach-Kanal in den 1930er Jahren auf 128 m³/s Abflussleistung ausgelegt worden. Die Stadtverwaltung bestätigte zuletzt eine Leistung des Nesenbach-Dükers von „etwa“ 100 m³/s. WikiReal argumentiert, dass sich darüber hinaus der Querschnitt des oberflächlichen Hochwasser-Überlaufs bis auf Höhe des Abgangs zur Klett-Passage mit Stuttgart 21 nur noch 1/9 bis 1/30 der heutigen Situation betragen wird. Demnach müsste befürchtet werden, dass sich mit Stuttgart 21 das Risiko einer Überschwemmung der unterirdischen Anlagen im Bereich der Klett-Passage und des Hauptbahnhofs um Faktoren erhöht.

Auf die letzten Anfragen zum Nesenbachdüker vom 18.06.2015 antwortete der Oberbürgermeister am 31.07.2015 (zu Frage 3, 4) mit Bezug auf die Stadtentwässerung Stuttgart (SES): „Die Leistungsfähigkeit der Düker ist aus Sicht der SES ausreichend nachgewiesen. Eine erhöhte Überflutungsgefahr durch die Düker besteht nicht. Das Kanalnetz ist gemäß dem aktuellen Regelwerk und den vorgegebenen Regenintensitäten dimensioniert. Die Leistungsfähigkeit des städtischen Kanalnetzes wird unabhängig von S21 in hydraulischen Berechnungen für den Bestand sowie als Prognose für die Zukunft ermittelt bzw. nachgewiesen. Wo erforderlich, werden Kanäle vergrößert.“ Im Blick auf diese sehr qualitativen Aussagen wird nachfolgend um quantitative Informationen zum Hochwasserrisiko gebeten.

Bei der Genehmigung der Tiefbahnhofsplanung rechnete das Eisenbahn-Bundesamt ausdrücklich damit, dass die Abflussleistung des Dükers ggf. nicht ausreicht und bei „stärkeren Niederschlagsereignissen das Abwasserkanalsystem überlastet“ sein kann und „ein Einstau vor dem Trogbauwerk“ und der Ablauf in den Mittleren Schlossgarten über die Engstelle zwischen dem südlichen Bahnhofshallendachende und dem Zugang Staatsgalerie“ erfolgt (Planfeststellungsbeschluss vom 2 vom 28.01.2005, S. 350).

Eine nachvollziehbare Hochwasser-Vorbeugung ist für den Gemeinderat sehr wichtig, wenn ausgerechnet an der engsten Stelle des Tales durch den Neubau des Tiefbahnhofs der Wasserabfluss deutlich verengt wird. Es stellen sich daher die nachfolgenden Fragen:

Wir fragen:

  1. Wie genau leitet sich der Wert der notwendigen Dimensionierung des Nesenbach-Dükers nachvollziehbar her? Es wird um die quantitative Darstellung der „Anforderungen des Regelwerks“, der „vorgegebenen Regenintensitäten“, der Größe des Einzugsgebiets und der weiteren Faktoren gebeten.
  2. Wie hat sich seit Auslegung des Nesenbach-Kanals in den 1930er Jahren die Hochwasserprognose für die Stuttgarter Innenstadt quantitativ verändert, unter Berücksichtigung der zunehmenden Flächenversiegelung und der zunehmenden Wahrscheinlichkeit für Starkregen-Ereignisse (siehe U. Schickedanz vom Deutschen Wetterdienst im Kontext-Artikel)?
    2 a) Welche Wassermengen sind bzw. waren im Nesenbach-Kanal und ggf. auf
    der Oberfläche mit welcher Jährlichkeit abzuführen, nach aktueller Prognose
    und der zur Zeit der Auslegung des Kanals?
    2 b) Was sind die Hauptgründe für die Veränderungen?
  3. Der Nesenbach-Kanal war ursprünglich 105 m³/Sek. ab Paulinenstraße und auf 128 m³/Sek. in dem von S21 betroffenen Abschnitt ab der Schillerstraße ausgelegt worden (Ulrich Gohl, „Der Nesenbach“, S. 77). Die Stadt Stuttgart gibt nun als Abflussleistung des Nesenbach-Kanals „etwa“ 100 m³/Sek. (in dem vom S21 betroffenen Bereich) an (Antwort vom 06.11.2013 auf Frage 29 vom 18.06.2013).
    3 a) Wie erklärt sich die Diskrepanz? Die Verwaltung möge die heutige Abflussleistung ab Paulinenstr. und ab Schillerstr. möglichst genau beziffern.
  4. Auf welchen genauen Wert ist die Abflussleistung des aktuell umgesetzten „verkürzten“ Nesenbach-Dükers spezifiziert?
    4 a) In wieweit wurde auch der neue „verkürzte“ Entwurf durch hydraulische
    Berechnungen und Modellversuche verifiziert und von der Verwaltung der
    Stadt geprüft?
    4 b) Welche genauen Werte für die Abflussleistung konnten bestätigt werden, mit
    welchen Unsicherheitsgrenzen?
  5. Zusammenfassend zu den vorigen Fragen:
    Wie erklärt sich also, dass zur Auslegung des Nesenbachkanals in den 1930er Jahren noch 128 m³/Sek. Abflussleistung für nötig erachtet wurden, heute, 85 Jahre später, aber nur noch 100 m³/Sekunde, die außerdem für die nächsten 100 Jahre ausreichen müssen? Wie ist das möglich, wenn inzwischen die Flächenversiegelung zunahm, zahlreiche Kanäle im Zulauf inzwischen „wo erforderlich“ „vergrößert“ wurden und zukünftig weiter vergrößert werden und wenn die Prognosen für Starkregen mit der Klimaerwärmung erhöht wurden. Um eine quantitative Argumentation wird gebeten.
  6. Ist der Stadt Stuttgart bekannt, auf welchen Wert sich die Geländeoberkante von heute am Tiefpunkt der Schillerstraße (liegt dieser bei 241,2 m NN oder bei welchem anderen Wert?) zukünftig im Bereich des S21-Bahnhofsrückens erhöht?
    6 a) Wird die Geländeoberkante mit Stuttgart 21 bei 241,35 m NN oder 242 m NN
    liegen oder bei einen anderen Wert?
    6 b) Wie wird sich in diesem Bereich die Querschnittsfläche des Hochwasser-
    Überlaufs durch S21 verringern, wenn der jetzige rund 230 Meter breite und
    etwa 1 Meter tiefe Überlauf durch die „Engstelle“ auf rund 30 Meter Breite und
    ggf. nur noch 20 cm Tiefe verengt wird (bis zum Niveau des Abgangs der
    Klett-Passage bei 242,2 m NN)?
    6 c) Wie viel mehr Wasser kann heute über den breiten Mittleren Schlossgarten an
    der Oberfläche abfließen, gegenüber der kleinen „Mulde“ bei S21? Um wie
    viel erhöht sich dadurch das Risiko einer Überschwemmung der
    unterirdischen Einkaufs- und Verkehrsanlagen am Bahnhof?
  7. Wie sehen die folgenden Details des Alarm- und Einsatzplans bei örtlichem Hochwasser und Starkregen aus?
    7 a) Welche Wassermenge wird angesetzt?
    7 b) Wie viel davon können Kanäle bzw. Düker abführen und wie viel muss auf der
    Oberfläche ablaufen?
    7 c) Welche Überflutungsflächen an der Oberfläche sind vorgesehen, mit welchen
    Überflutungshöhen wird gerechnet? Um Veröffentlichung der entsprechenden
    Karten (heute und mit S21) wird gebeten.
    7 d) Mit welcher Abflussleistung auf der Geländeoberfläche rechnet die Stadt an
    der Engstelle des Bahnhofs, wenn der Pegel auf die Höhe des Eingangs zur
    Klettpassage steigt?
    7 e) Wie wird nach den anerkannten Regeln das Risiko eingeschätzt, dass
    Treibgut diese Engstelle verlegt?
  8. Welche Änderungen des Alarm- und Einsatzplans ergeben sich mit Stuttgart 21?
    8 a) Welche Vorwarndaten werden wie überwacht?
    8 b) Wie ist die Alarmkette?
    8 c) Welche mobilen Hochwasser-Schutzeinrichtungen werden wo vorgehalten?
    8 d) Wie werden insbesondere die kurzen Vorwarnzeiten bei den „schwer vorhersagbaren“ Starkregen-Ereignissen abgefangen?
    8 e) Wie wird insbesondere eine Flutung der Klettpassage wie am 05.06.2000
    (St.Z. vom 07.06.2000 „Kein absoluter Schutz gegen Hochwasser in der Röh-
    re“) und eine Flutung der Schlossgarten-Tiefgarage verhindert, heute und
    zukünftig?
    8 f)  Wie können etwa die in der Planfeststellung erwähnten (S. 370) Dammbalken-
    verschlüsse (wo werden diese gelagert?) innerhalb der kurzen Vorwarnzeit
    aufgebaut werden?
    8 g) Wie werden diese verankert?
  9. Zur Einschätzung der Häufigkeit solcher Ereignisse wird gefragt:
    9 a) An welchen Tagen seit 1960 überstieg der Pegel des Nesenbach-Kanals die
    Füllung des Kanals bis zur Hälfte seines Querschnitts?
    9 b) Welche Pegel-Höhen wurden erreicht (möglichst mit zeitlichem Verlauf)?
    9 c) Was ist die Maximal-Pegel-Höhe, bei der ein Rückstau in die Kanalisation
    einsetzt?
    9 d) Welche Rückstau-Ereignisse mit welchem Umfang wurden beobachtet?
    9 e) Wenn nicht in den vorigen Daten enthalten, wie war der Pegel-Verlauf des
    Nesenbach-Kanals an den folgenden Tagen: 08.06.2016, 14.08.2015,
    29.07.2013, 05.06.2011, 22.05.2011, 21.05.2011, 04.07.2010, 10.08.2009,
    01.09.2008, 29.05.2007, 25.06.2005, 26.08.2002, 27.06.2001, 05.06.2000,
    26.06.1998, [… in diesen Jahren mangelt es an öffentlichen Quellen für
    Starkregen-Ereignisse …], 20.05.1985, 21.06.1984, 11.06.1979, 22.05.1978,
    10.08.1975?
    9 f)  Wie waren die Nesenbachkanal-Pegelhöhen und zeitlichen Verläufe bei den
    Nesenbach-Hochwassern vom 15.08.1972, 18.05.1966, 20.07.1965, 1951,
    1938, 07.05.1931 (vgl. Ulrich Gohl, „Der Nesenbach“ und „Kurze Geschichte
    von Berg“)?
    9 g) Welche Niederschlagsdaten wurden an diesen Tagen an den Stuttgarter Wet-
    terstationen gemessen (möglichst mit zeitlichem Verlauf)?
  10. Welche historischen Überflutungshöhen sind für den Mittleren Schlossgarten bekannt (bitte vollständige Auflistung)?
  11. Die Stadt Stuttgart weist für die Stadtmitte keine Überschwemmungsgebiete aus. Gleichwohl nimmt das Eisenbahn-Bundesamt in der Genehmigung von Stuttgart 21 die Überflutung des Mittleren Schlossgartens an?
    11 a) Müsste der Schlossgarten nicht als Überschwemmungsgebiet ausgewiesen werden?
    11 b) Wenn nein, warum nicht?
  12. Die Deutsche Bahn AG wollte im Rahmen der Bauarbeiten zu Stuttgart 21 eine Untersuchung historischer Hochwasser auf dem Gelände nicht zulassen (St.Z. 25.02.2014, „Schwierige Spurensuche im Untergrund“).

    12 a) Wurden solche Untersuchungen doch noch vorgenommen?
    12 b) Mit welchem Ergebnis?
    12 c) Hat die Stadt Stuttgart ggf. eigene Untersuchungen unternommen?
    12 d) Wenn nein, warum nicht?

Wir beantragen:

Eine zeitnahe und schriftliche Beantwortung der oben gestellten Fragen.