Statement von Stadträtin Guntrun Müller-Enßlin (SÖS) beim Empfang der Rosa –Luxemburg-Stiftung zum ev. Kirchentag am 3. Juni 2015:
Ich mache dazu eine ganz einfache plakative Aussage: Die Themen, die die Religion hat, sind links.
Jesus hatte eine kritische Einstellung zum Reichtum und zur Macht des Geldes, er ergriff Partei zugunsten der Armen und der Randsiedler der Gesellschaft und er vertrat eine radikal pazifistische Haltung. Diese Themenbereiche berühren sich mit den Themen, die sich die LINKE auf die Fahnen geschrieben hat: Soziale Gerechtigkeit, sich stark machen für Randgruppen, Kapitalismuskritik, Pazifismus. Allgemeiner formuliert: Das von Jesus proklamierte Gebot der Nächstenliebe stimmt überein mit dem Eintreten der LINKEN für eine friedliche, humane und solidarische Gesellschaft, in der sich jeder Mensch in der Gemeinschaft mit anderen frei entfalten kann. Will sagen: Die Schnittmenge zwischen linken und religiösen Themen ist sehr groß.
Dass dies der Fall ist, dass links und religiös – oder auch links und christlich – sich nicht ausschließen, sondern im Gegenteil eine sehr viel Gemeinsames haben, konnte man in der Praxis in den letzten fünf Jahren gerade hier in Stuttgart gut beobachten und zwar anhand der Protestbewegung gegen Stuttgart 21. Hier leisteten Bürgerinnen und Bürger Widerstand, die sich neben dem grünen vor allem zum linken politischen Spektrum zählten; sie taten es Seite an Seite mit christlich geprägten, oft, aber nicht immer in der Kirche verorteten Menschen. Dass der Anteil religiös verankerter Menschen in der Bewegung sehr groß war, davon konnte ich mir persönlich ein Bild machen besonders im Protestsommer 2010 bei von mir verantworteten Gottesdiensten und Parkgebeten mit zum Teil über 1000 Besuchern.
All die Menschen, die in der Protestbewegung zusammenfanden, ob links, ob christlich oder links UND christlich haben bald gemerkt, dass es bei S 21 um weit mehr als einen Bahnhof geht. Uns ist schnell klar geworden, dass sich hier politische Themen konkretisieren und ein Gesicht bekommen, die sonst eher abstrakt herüberkommen: Macht des Kapitalismus und der Konzerne, Wachstumsdogmatismus, Ökologie und Nachhaltigkeit, Demokratie. Stuttgart 21 hat sich für uns sehr schnell enttarnt als gigantischer Geldverschiebebahnhof, nur dazu da, Steuergelder weg von der Bevölkerung von unten nach oben zu befördern. Stuttgart 21 war also geradezu das Paradebeispiel für die Kristallisierung von Themen, die LINKE und Christen miteinander teilen.
Wenn ich sage links und christlich schließen sich nicht aus sondern ein, dann muss ich hier zugleich etwas modifizieren. Religiös oder christlich ist nicht gleich kirchlich, hier muss man unterscheiden. Auch das mussten wir im Lauf des Protests gegen Stuttgart 21 erfahren. Ich habe „meine Kirche“ in dieser Zeit als eine sehr ängstliche Kirche erlebt, eine Kirche, die nur insofern konsequent war, als sie sich aus dem Konflikt um Stuttgart 21 konsequent herausgehalten hat mit dem Argument, es handle sich um ein rein verkehrspolitisches Projekt und mit einem zweiten Argument, das ich nicht nur für verhängnisvoll, sondern auch für rundweg falsch halte: Sie hat nämlich mit dem Hinweis, Kirche habe für alle da zu sein, darauf beharrt, in Sachen S21 keine Stellung beziehen zu dürfen. Wer aber keine Stellung bezieht, der stützt immer den herrschenden Status Quo und das heißt, die Seite der Macht.
Dass die Kirche nicht die Gelegenheit wahrgenommen hat, sich dem Protest anzuschließen und damit eine demokratische Methode genutzt hat, um ihre ureigensten Themen in die breite Bevölkerung zu tragen, das ist der Kirche hoch anzukreiden. Man stelle sich vor, die Landeskirche hätte genau das getan, nämlich aus Anlass eines menschenfeindlichen Projektes ihre Themen, die sie mit der Linken teilt, medienwirksam in der Öffentlichkeit präsent zu machen! Als Institution, die in der Gesellschaft immer noch hohes Ansehen und Gehör genießt, hätte sie dazu beitragen können, was der Linken allein nicht gelingt, nämlich Massen zu mobilisieren. Durch christliche Argumentation hätte sie die Politik und die Konzerne in die Enge treiben können. Das alles ist nicht geschehen. Ich wünsche mir eine mutigere Kirche, die, wenn ihr der Boden für politische Positionierungen schon zu heiß ist, zumindest öffentliche Podien schafft, auf denen kontroverse politische Themen mit weitreichenden Konsequenzen für die Menschen wirklich OFFEN diskutiert werden können.
Ein solches Podium könnte der soeben beginnende Kirchentag sein. Wenn man das Kirchentagsprogramm aufschlägt, dann stößt man auf eine unglaubliche Vielfalt politischer Themen, die auf dem Hintergrund christlichen Glaubens reflektiert werden. Das ist löblich und gut; ich frage mich aber, warum sich in diesem Programm mit Müh und Not nur eine einzige Veranstaltung zum Thema Großprojekte und S21 findet; ansonsten wird der Themenkomplex Stuttgart 21, der mit dazu beigetragen hat, dass die Proteststadt Stuttgart 2011 als Kirchentagsort ausgewählt wurde, bei diesem Kirchentag schlichtweg totgeschwiegen. Da muss schon die Frage erlaubt sein, wie ernsthaft, glaubwürdig und effizient sind Veranstaltungen, die sich Missständen widmet, die weit weg sind, oder sehr allgemein ohne konkreten Griff, wenn gleichzeitig der ganz handgreifliche konkrete Skandal direkt vor unserer Haustür ausgespart wird: Die Stadtzerstörung vor Ort durch Stuttgart 21, bei der ein Konzern um sich schlägt wie ein wildgewordener Kinderzimmertyrann, die wird bei diesem Kirchentag ignoriert, da wird geschwiegen und weggeschaut.
Ein kleiner Lichtblick ist da die Demonstration gegen Stuttgart 21 am kommenden Samstag. Die ist allerdings mitnichten eine Veranstaltung des Kirchentags, sondern wurde von den Theologen gegen S21 zusammen mit dem Aktionsbündnis gegen S21 geplant. Zu dieser Veranstaltung am Samstag Nachmittag um 14 Uhr, bei der dann LINKE und Christen wieder gemeinsam streiten werden, möchte ich die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle einzuladen.